Wie geht es eigentlich dem Schweizer Mittelstand? Teil 2
VON Janine El-Saghir Allgemein
In seinem NZZ-Artikel zu den Perspektiven des Schweizer Mittelstandes wertet der Autor Matthias Müller jedoch noch weitere Quellen – beispielsweise zur Lohnentwicklung und der wirtschaftlichen Belastung des Mittelstandes – aus, die in einigen Punkten ein differenzierteres Bild erzeugen.
Dies ist ein Bericht in zwei Teilen:
– Teil 1: Die Globalisierung treibt soziale Abstiegsängste an
– Teil 2: Gute Qualifikation sorgt für die Stabilität des Mittelstandes
Die Berufslehre als klassische Mittelstandsqualifikation gerät unter Druck
Die Wirtschaftswissenschaftler Sandro Favre, Reto Föllmi und Josef Zweimüller haben im Rahmen einer Studie der Universität Zürich die Entwicklung des Lohngefüges in der Schweiz in den Jahren 1994 bis 2010 untersucht – mit einigen recht ernüchternden Resultaten. Demnach sind im Untersuchungszeitraum die Reallöhne des 90. Perzentils – also jener Erwerbstätigen, deren Lohnniveau neun von zehn Arbeitnehmer nicht erreichen – um insgesamt 15 % gestiegen. Der Medianlohn als der Wert, der die Gesamtheit der Erwerbstätigen in zwei grosse Blöcke teilt, die mit ihren Einkommen entweder darüber oder darunter liegen, ist dagegen nur um sieben % gewachsen. Die zehn % der Arbeitnehmer mit den niedrigsten Löhnen konnten einen Einkommenszuwachs um acht % für sich verbuchen.
Die Ökonomen leiten daraus ab, dass sich der Mittelstand heute mehr leisten kann als in der ersten Hälfte der 1990er Jahre. Jedoch haben die mittleren Bildungsschichten (Sekundarstufe II) gegenüber den Hochschulabsolventen deutlich und gegenüber geringer Qualifizierten (Sekundarstufe I oder weniger) leicht verloren. Sie nehmen an, dass diese Zahlen einen zunehmenden Trend zur Spezialisierung reflektieren. Eine Berufslehre galt lange als das klassische Qualifikationsniveau des Mittelstandes, bietet künftig jedoch nicht zwangsläufig materielle Sicherheit. Viele Absolventen einer Berufslehre haben dies erkannt und studieren nach deren Abschluss noch an einer Fachhochschule.
60 % der Schweizer gehören zum Mittelstand
Andere Studien ziehen die Einkommensgrössen zur Beurteilung der Situation und der Perspektiven des Mittelstands heran. Dabei geht es nicht explizit um Verteilungsfragen zwischen den verschiedenen sozialen Schichten, sondern um deren wirtschaftliche Belastung. Das Bundesamt für Statistik (BfS) hat im Hinblick auf die Situation der mittleren Einkommensgruppen in der Schweiz dazu mehrere Untersuchungen vorgelegt. Die seit 1998 jährlich in 3.000 Haushalten durchgeführte Haushaltsbudgeterhebung ist dafür ein Standardinstrument. International siedeln Statistiker den Mittelstand im Bereich zwischen 70 und 150 % des Medianeinkommens an. Die Ergebnisse und Einkommensgrenzen der Schweizer Stichprobe werden je nach dem Bedarf der Haushalte gewichtet. Ein Schweizer Paar mit einem Kind gehört demnach zum Mittelstand, wenn es über ein gemeinsames monatliches Bruttoeinkommen zwischen 6.694 und 14.343 Franken verfügt. Die BfS-Erhebung zeigt, dass der Anteil des Mittelstands an der Gesamtbevölkerung der Schweiz seit 1998 recht konstant etwa 60 % beträgt.
Eine Polarisierung der Einkommensschichten ist bisher nicht erkennbar
Durch die Erhebung wird jedoch auch deutlich, welchen Einfluss die allgemeine wirtschaftliche Lage und ein intakter Arbeitsmarkt auf die Situation des Schweizer Mittelstandes haben. Unter Konjunkturrückgängen wie beispielsweise zu Beginn der 2000er-Jahre leidet vor allem die untere Mittelschicht, deren Einkommen zwischen 70 und 100 % des Medianwerts liegt. Während der Rezession nahm der Anteil der einkommensschwachen Haushalte, die weniger als 70 % des Medians verdienen, etwas zu, verringerte sich jedoch im nächsten konjunkturellen Aufschwung wieder. Das BfS zieht daraus den Schluss, dass eine Polarisierung der Einkommensschichten nicht erkennbar ist. Seit der Jahrtausendwende haben sich viele mittelständische Haushalte zudem den Traum vom eigenen Haus erfüllt. Die Voraussetzungen dafür wurden durch generelle Einkommenszuwächse, aber auch einen erleichterten Zugang zu Hypothekendarlehen geschaffen.
Andererseits steigt die Belastung des Mittelstandes durch obligatorische Ausgaben seit dem Ende der 1990er-Jahre an. Verantwortlich dafür sind unter anderem steigende Gesundheitskosten.
Der Schweizer Mittelstand ist bisher stabil
In ihrer Studie „Schrumpfende Mittelschicht in der Schweiz?“ weisen auch die Luzerner Ökonomen Christoph Schaltegger und Christoph Gorgas anhand einer langfristigen Auswertung der amtlichen Steuerstatistik nach, dass der Schweizer Mittelstand weitgehend stabil ist. Ihre Analyse zeigt, dass sich das Durchschnittseinkommen der Schweizer nicht vom Medianeinkommen entfernt hat. Dies wäre dann der Fall, wenn die oberen Einkommensgruppen deutlich höhere Zuwächse zu verzeichnen hätten als der Mittelstand. Auch der Gini-Koeffizient – ein weiteres Mass für die Einkommensverteilung in der Gesellschaft – hat sich in der Schweiz langfristig nicht verändert.
Als ein Fazit: Die Schweizer Mitte bröckelt bisher nicht – auch nicht an ihren Rändern. Das BfS formuliert dazu, dass die Abstiegsängste des Mittelstandes für die These von der „schrumpfenden Mitte“ ausschlaggebender sein dürften als sein tatsächlicher Lebensstandard. Ob dies so bleibt, hängt im Zeitalter der Globalisierung von verschiedenen Faktoren ab – neben konjunkturellen Einflüssen vor allem von einem intakten Arbeitsmarkt, der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Schweizer Wirtschaft sowie der Fähigkeit von Arbeitnehmern, ihr Qualifikationsniveau zu halten oder zu verbessern.
Tags: Schweiz, Mittelstand, Arbeitsmarkt, Qualifikation, Durchschnittseinkommen, Medianeinkommen, Lebensstandard, Einkommensgruppen, Lohnentwicklung, Gini-Koeffizient, Zürich, Luzern, Wettbewerbsfähigkeit.
Facebook-Text: Eine Analyse der „NZZ“ zur Situation des Schweizer Mittelstandes zeigt: die soziale Mitte bröckelt bisher nicht. Auch die Polarisierung der verschiedenen Einkommensgruppen in der Schweiz hat in den letzten beiden Jahrzehnten kaum zugenommen. Ob der Mittelstand seinen sozialen Status auch in Zukunft halten kann, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Eine Rolle spielen die allgemeine Konjunkturentwicklung, die Wettbewerbsfähigkeit der Schweizer Wirtschaft sowie ein hohes und marktfähiges Qualifikationsniveau von Arbeitnehmern.
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