Niedrigzins und Börsen-Hausse – werden die Reichen immer reicher?

Niedrige bis negative Zinsen sowie Höhenflüge an der Börse sind derzeit zwei Fakten, die auch Einfluss auf die Vermögensverteilung haben. Die Frage ist, welche sozialen Gruppen von den geldpolitischen Interventionen auf den Märkten am meisten profitieren.

Für Bürger ohne Aktienvermögen stellt sich die aktuelle Entwicklung widersprüchlich dar: Einerseits profitieren sie durch niedrige Inflationsraten und damit günstigere Lebenshaltungs- und Shoppingkosten, auch Darlehen für Konsum oder Immobilienerwerb waren in den letzten Jahren ausgesprochen günstig. Andererseits wurden durch den Niedrigzins sämtliche konventionellen Modelle für den Vermögensaufbau wie Festzinsanlagen oder Lebensversicherungen obsolet, was sich in absehbarer Zukunft auch nicht ändern wird.

Die Notenbanken – darunter auch die Schweizerische Nationalbank (SNB) – argumentieren, dass die geldpolitische Einflussnahme nötig ist, um die Wirtschaftsleistung anzukurbeln oder abzusichern. In der Schweiz spielt hier neben Deflationsbefürchtungen auch die Gefahr einer Rezession durch den starken Franken eine Rolle.

Quantitative Easing und Niedrigzins: Ein Ende ist nicht abzusehen

In einem Gastbeitrag für die „NZZ“ erläutern die Wirtschaftswissenschaftler Markus Demary und Judith Niehues, welche Auswirkungen die Geldpolitik auf die Verteilung von Einkommen und Vermögen hat. Ihrem Artikel liegen die Ergebnisse einer detaillierten Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) Köln zugrunde. Der Ausgangspunkt ihrer Analyse besteht darin, dass die Geldpolitik auf die Vermögensverteilung bis zur Finanz- und Wirtschaftskrise nur einen marginalen Einfluss hatte. Die Zinsbewegungen wurden vor allem durch den Markt geregelt, so dass daraus keine „systematischen Verteilungseffekte“ resultierten. Im Zuge der Krise erreichten die herkömmlichen geldpolitischen Massnahmen der Zentralbanken sehr bald die Grenzen ihrer Wirksamkeit. Die Institute – im ersten Schritt die US-amerikanische Fed, danach auch die Europäische Zentralbank (EZB) sowie die Notenbanken anderer Länder – sahen sich gezwungen, zu unkonventionellen Massnahmen zu greifen.

Die grossangelegten Wertpapierkäufe der EZB sind erst in diesem Frühjahr angelaufen, sie sollen mindestens bis 2016 Milliardensummen in das europäische Banksystem und die europäische Wirtschaft pumpen. Parallel dazu bekräftigen die EZB, aber auch die SNB und diverse andere Notenbanken, dass sie ihren Leitzins für eine unabsehbare Periode niedrig halten werden. In den USA steht im kommenden Herbst oder zum Jahreswechsel zwar die Zinswende auf der Tagesordnung, sehr wahrscheinlich wird diese jedoch langfristig und in kleinen Schritten vor sich gehen.


Die SNB argumentiert, dass die geldpolitische Einflussnahme nötig ist, um die Wirtschaftsleistung anzukurbeln oder abzusichern. (Bild: © Pixeljoy – shutterstock.com)

Verteilungseffekte sind abhängig von der Einkommensart sowie den Anlagemodellen

Welche Verteilungseffekte sich aus dieser Konstellation ergeben, spielt in der öffentlichen Debatte nur eine marginale Rolle. In der Schweiz haben sich dazu neben einigen Politikern bisher vor allem die Pensionskassen zu Wort gemeldet, deren Anlagevermögen – und damit eine wesentliche Grundlage der Altersversorgung Schweizer Pensionäre – durch das Zinstief sukzessive schwinden. Die beiden Wissenschaftler nähern sich dem Thema jedoch weniger unter sozialpolitischen Aspekten, sondern liefern einen Querschnitt möglicher Verteilungseffekte über das gesamte soziale Spektrum. Demnach entwickeln sich die Folgen der Geldpolitik – zum Teil durchaus mit widersprüchlichen Tendenzen – ebenso heterogen wie sich die Situation der Haushalte darstellt, die davon betroffen sind. Entscheidende Faktoren sind Höhe und Herkunft der Einkommen sowie die Anlagemodelle, die ein Haushalt präferiert oder sich leisten kann.

Die ultralockere Geldpolitik zeitigt gegensätzliche Effekte

Demnach trägt eine ultralockere Geldpolitik in zwei Dimensionen zur Vermögensungleichheit bei: Ärmere Haushalte tendieren dazu, ihre Ersparnisse zu festen Zinssätzen anzulegen, während reichere Haushalte den überwiegenden Teil ihres Vermögens in Wertpapiere und Immobilien investieren. Letztere sind damit angesichts des Aktien- und Immobilienbooms bis auf Weiteres auf der Gewinnerseite. Auch die weitgehende Lohnabhängigkeit respektive ein nur geringer Anteil von Vermögenseinnahmen der ärmeren Haushalte spielen im Hinblick auf sich öffnende Einkommensscheren eine Rolle.

Andererseits erleichtert die expansive Geldpolitik ärmeren Haushalten sowohl die Kreditaufnahme als auch den Schuldendienst. Einkommensstarke Haushalte verbuchen vor allem dann Verluste, wenn sie nur geringe Schulden haben und gemessen an ihrem Bruttovermögen einen relativ hohen Anteil festverzinslicher Spareinlagen halten. Ein weiterer Einflussfaktor ergibt sich aus der wirtschaftlichen Entwicklung: In Phasen guter Konjunktur oder der Abmilderung einer Rezession – als dem grundsätzlichen Ziel der aktuellen Geldpolitik – sind die Einkommenszuwächse der ärmeren Haushalte oft besonders hoch.



Jüngere Haushalte mit Wohneigentum profitieren von den niedrigen Zinsen

Für ihre Analyse haben Demary und Niehues eine EZB-Studie zur finanziellen Lage und Konsummöglichkeiten der Haushalte („Household Finance and Consumption Survey“) ausgewertet. In einer Sektorenbetrachtung zeigen diese Zahlen, dass der Rückgang der Zinserträge höher ist als die Erleichterungen für den Schuldendienst. Aus einer soziodemografischen Betrachtung ergibt sich jedoch ein etwas anderes und differenzierteres Bild.

Demnach treten zumindest in Deutschland signifikante Verteilungseffekte vor allem zwischen Sparern und Schuldnern auf. Jüngere Haushalte, die ihr Wohneigentum durch einen Immobilienkredit finanzieren, profitieren von der geringeren Zinsbelastung. Mit einer ungünstigen Relation zwischen Zinserträgen und Zinsbelastung haben vor allem ältere Haushalte zu kämpfen. Da diese im Schnitt über höhere Vermögen verfügen als die jüngere Generation, hat die Niedrigzinsphase zumindest im Generationenvergleich innerhalb derselben sozialen Gruppe eher zu einer Minderung von Vermögensungleichheiten geführt.

Einkommensschwächere Haushalte mit Schulden profitieren durch den Niedrigzins

Auch die ärmsten 10% der befragten Haushalte sparen durch die niedrigeren Zinsen mehr, als sie durch die geringeren Zinserträge ihrer Ersparnisse verlieren, Schuldendienst-Erleichterungen und Zinsverluste zeigen in ihrem Fall – anders als in allen anderen Dezilen – einen positiven Saldo. Eine Ausnahme stellen ärmere Haushalte mit wenig oder keinen Schulden dar, die innerhalb der konventionellen Anlagemodelle derzeit kaum noch Chancen haben, Vermögen aufzubauen. Andererseits zeigen die EZB-Zahlen auch nicht, dass die reichen Haushalte des achten und neunten Dezils vom Aktien- und Immobilienboom in besonders hohem Masse profitieren. Die Ursache dafür liegt darin, dass sie sich vor allem im Hinblick auf den Anteil von Immobilienwerten an ihrem Gesamtvermögen von anderen Einkommensgruppen nicht wesentlich unterscheiden.


Einkommensschwächere Haushalte mit Schulden profitieren durch den Niedrigzins (Bild: © Lisa S. – shutterstock.com)

Der Anteil des Immobilienvermögens im ersten Dezil beläuft sich auf 72 %, im achten und neunten Dezil erreicht er jeweils 70 %. Im obersten Dezil müssen zu einem Anteil von 60 % Immobilienvermögen noch 20 % Betriebsvermögen hinzugerechnet werden. Die Aktienvermögen der privaten Haushalte in Deutschland sind dagegen niedrig. Bei den einkommensschwächsten 10 % der Haushalte beläuft sich die Aktienquote auf magere 0,6 %, auch im obersten Dezil liegt sie bei den Haushalten ohne Betriebsvermögen bei nur etwa 4 %. Die Vermögensverhältnisse in der Schweiz werden durch die EZB-Studie naturgemäss nicht erfasst, in allgemeiner Form dürften sie auf die Eidgenossenschaft jedoch zumindest der Tendenz nach übertragbar sein.

Keine Vermögensumverteilung im grossen Stil und stabilisierende Effekte

Eine Vermögensumverteilung im grossen Stil hat die expansive Geldpolitik der Notenbanken bisher nicht in Gang gesetzt. Hinzu kommen stabilisierende Effekte. Bei einer dauerhaften Deflation ohne geldpolitische Interventionen wären sowohl der Realwert der Vermögen als auch der Schulden angestiegen, was insbesondere junge Haushalte stark belastet hätte. Immer dann, wenn geldpolitische Massnahmen eine Rezession mildern oder verhindern konnten, haben sie auch zur Sicherung von Arbeitsplätzen beigetragen, wovon vor allem die unteren Einkommensgruppen profitieren, da sie unter konjunkturbedingten Stellenstreichungen oft am meisten leiden.

Im Fokus der Geldpolitik sollte eine stabile wirtschaftliche Entwicklung stehen

Eine Studie der Weltbank in über 100 Ländern bestätigt im Übrigen, dass die Schweiz und die Europäische Union mit ihrer Geldpolitik und ihren Inflationszielen auf einem grundsätzlich richtigen Weg sind. Soziale Ungleichheit und Konjunkturschwankungen sind in der Regel in Ländern mit hoher Inflation am stärksten ausgeprägt, eine längerfristige Inflationsrate von etwa 2 % erweist sich in beiden Dimensionen als stabilisierend.



Die beiden Forscher formulieren als Fazit ihrer Analyse, dass eine stabilitätsorientierte Geldpolitik, die auf geringe Teuerungsraten und eine möglichst ausgeglichene Konjunkturentwicklung abzielt, auch dazu beiträgt, eine rasante Zunahme von Einkommens- und Vermögensungleichheiten zu verhindern. Eine expansive Geldpolitik, die ausschliesslich auf Wachstum orientiert ist, kann hier kontraproduktiv sein – im Kern geht es vielmehr darum, eine stabile wirtschaftliche Entwicklung auch geldpolitisch abzusichern.

 

Oberstes Bild: © Lisa S. – shutterstock.com

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