Wirtschaftsstandort Schweiz: In Zukunft unberechenbar?

Der deutsche Logistik-Unternehmer Klaus-Michael Kühne fand vor einigen Wochen im Hinblick auf die erwarteten Folgen des Masseneinwanderungsvotums markige Worte: Zwar sei er nie ein Befürworter der totalen Freizügigkeit gewesen, trotzdem sei sein Unternehmen auf die Beschäftigung ausländischer Manager angewiesen. Sein Credo: In der Schweiz entstehe eine Neidkultur, das Land sei unberechenbar geworden. Falls sich aus der Abstimmung tatsächlich Zuwanderungsrestriktionen ergeben, wird die Kühne-&-Nagel-Hauptverwaltung wohl die Schweiz verlassen.

Der Vorwurf der Unberechenbarkeit kommt derzeit auch von anderen Firmen, darunter von Grosskonzernen wie Tyco, Weatherford oder Yahoo, die sich inzwischen gegen den Standort Schweiz entschieden haben. Die globale Konkurrenz von Irland über Dubai bis nach Fernost hat Grund zur Freude.

Die Frage ist: Was ist an diesen Vorwürfen berechtigt und was ist völlig aus der Luft gegriffen? Im Interview mit der „Handelszeitung“ liefert der Politologe Michael Herrmann, Leiter der Forschungsstelle „sotomo – gesellschaft, politik & raum“ in Zürich, eine recht komplexe Analyse.

Politische Stabilität und Kontinuität – auch die Konkurrenz holt auf

Die Attraktivität der Schweiz für internationale Firmen war demnach ursprünglich das Ergebnis ihrer besonderen historischen Entwicklung. Die Geschichte der Schweiz ist durch Kontinuität und politische Stabilität geprägt – vom Grundsatz her hat sich daran auch heute nichts geändert. Allerdings führt ein Regierungswechsel auch in vielen anderen Ländern nicht mehr zu gravierenden Änderungen in der Politik – in Bezug auf ihre Stabilität sind sie inzwischen mit der Schweiz vergleichbar.

Die Konkurrenz hat also aufgeholt. Die direkte Demokratie der Schweiz – weltweit in dieser Form einmalig – sorgt dagegen für eine Unberechenbarkeit, unter der nun die Unternehmen leiden.

Mut zum Votum – auf Basis gefühlter Überlegenheit

Michael Herrmann konstatiert in diesem Kontext, dass sich das Abstimmungsverhalten der Schweizer verändert habe. In früheren Jahren hätten Initiativen kaum jemals Mehrheiten gefunden, die Schwelle hierfür sei heute stark gesunken. Mit der Abzocker- oder Masseneinwanderungsinitiative sind nun auch Themen mehrheitsfähig, welche den Wirtschaftsstandort Schweiz explizit betreffen. Die Wahrnehmung der „zuverlässigen Schweiz“ wird hierdurch verändert.

Die Gründe dafür, dass sich die Schweizer stärker als bisher für Reformen engagieren, liegen laut Herrmann in verschiedenen Faktoren. Das Stimmvolk sei „mutiger geworden“ – unter anderem deshalb, weil es der Schweiz in den vergangenen Jahren wirtschaftlich ausgezeichnet ging und sie im Gegensatz zur Europäischen Union die Krise fast unbeschadet überstanden hat. Daraus resultierten auch Selbstzufriedenheit und Überlegenheitsgefühle. Zum anderen habe die Stimmbevölkerung gelernt, dass nach der Annahme einer Initiative in der Regel nicht allzu viel passiere.

Vertrauensverlust gegenüber politischem System und Wirtschaft

Auch die Initiatoren der Volksbegehren haben einen Lernprozess durchlaufen. Sie wissen immer besser, wie eine Initiative mehrheitsfähig werden kann. Ein erfolgreiches Referendum zieht in der Regel weitere Initiativen zu ähnlichen Themen nach sich. Der „Druck in der politischen Landschaft“ werde immer grösser, die Kompromissbereitschaft schwinde.

Auf lange Sicht ist dieser Trend gefährlich, da eine funktionierende Kompromisskultur bisher zu den zentralen Säulen des eidgenössischen politischen Systems gehört. Dass er die Schweizer Stabilität grundsätzlich infrage stellen kann, wird dabei zumindest bislang übersehen. Hinzu kommt, dass sich der Blick der Eidgenossen auf die Wirtschaft in den Boom-Jahren verändert hat. Herrmann diagnostiziert eine wachsende Skepsis gegenüber Zuwanderung und Wachstum, auch das Vertrauen in die Wirtschaft und zwischen den Sozialpartnern sei gesunken.

Die Schweizer stellen damit eine der wesentlichen Stärken ihres Landes tendenziell infrage: Dieses politische und wirtschaftliche Grundvertrauen erlaubte der Schweiz bisher, die Relationen zwischen Wirtschaft, Staat und Bürgern nicht bis ins letzte Detail zu regeln.

Gefahr langfristiger Imageschäden

Die Unberechenbarkeit der Schweiz ist aus der Perspektive des Politologen trotzdem in weiten Teilen ein Konstrukt der damit argumentierenden Unternehmen. Ein Konzern, der sich – beispielsweise aus steuerlichen Gründen – ohnehin einen anderen Standort wünscht, kann diesen Schritt damit scheinbar schlüssig und ohne eigene Imageschäden begründen.

Bedenklich sei jedoch, wenn die Schweiz in der öffentlichen Meinung und weit über die Landesgrenzen hinaus einen solchen Ruf erhalte. In der Regel brauche es viel und dauere lange, bis sich das Image eines Standorts ändert, am Ende reiche dann wenig, um es endgültig zu kippen. Eine internationale Debatte über die Unberechenbarkeit der Eidgenossen gibt es nach der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative zum ersten Mal – mit dem Potenzial, die Stabilität und das Image des Wirtschaftsstandorts Schweiz zu untergraben.


Wirtschaftsboom - Das Image der Schweiz beeinflusst. (Bild: Dusit / Shutterstock.com)
Wirtschaftsboom – Das Image der Schweiz beeinflusst. (Bild: Dusit / Shutterstock.com)


Luxusdebatten vor dem Hintergrund des Wirtschaftsbooms?

Das Image der Schweiz beeinflusst – in Zeiten wachsender Konkurrenz – natürlich die Entscheidungsfindung der Konzerne. Trotzdem ist sie für internationale Unternehmen durch ihre „bürgerlichen Tugenden“ nach wie vor ein attraktiver Standort. Michael Hermann meint, dass Abstimmungen wie das Masseneinwanderungsvotum Ausdruck einer Luxushaltung seien – die Schweizer befänden sich in einer Position, in der sie es sich leisten könnten, über bestimmte Fragen nachzudenken. Hinzu komme, dass wirtschaftliche Boom-Phasen in der Regel auch zu Isolationismus und Protektionismus führen – die Schweiz befinde sich gerade am Ende eines solchen Zyklus.

Herrmanns generelles Fazit zur aktuellen politischen Kultur der Schweiz: In vielen Bereichen sei sie nach wie vor berechenbar, auch die generelle Wirtschaftsfreundlichkeit sei nach wie vor gegeben. Die diversen Initiativen, der damit verbundene Vertrauensverlust sowie die schwindende Kompromisskultur erzeugten jedoch ein Element der Unberechenbarkeit, das es in etablierten repräsentativen Demokratien derzeit so nicht gebe. Optimistisch stimmt diese Feststellung nur bedingt – vielleicht ist eine gesellschaftliche Debatte der Schweizer zu Standortfragen sowie allgemeinen wirtschaftlichen Perspektiven überfällig.

 

Oberstes Bild: © Richard Cavalleri – Shutterstock.com

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