SVP-Initiative gegen Masseneinwanderung: Ein Anti-Job-Programm für Schweizer?

Die Debatte um Masseneinwanderung in die Schweiz wurde in den vergangenen Monaten recht emotional geführt. Im Kern ging es bei dem Urnengang um eine „kulturelle“ Entscheidung, konkrete wirtschaftliche Erwägungen dürften bei den Befürwortern der SVP-Initiative mehrheitlich nicht den Ausschlag gegeben haben. Bereits sehr kurze Zeit nach dem Urnengang am 9. Februar 2013 ist absehbar, dass das Abstimmungsergebnis den Wirtschaftsstandort Schweiz nachhaltig verändern und auch Schweizer ihre Arbeitsplätze kosten könnte.

Die „NZZ am Sonntag“ publizierte am vergangenen Wochenende einen eher düsteren Wochenrückblick: Ein internationaler Konzern setzt die Entscheidung aus, im Kanton Zug ein Forschungs- und Entwicklungszentrum zu errichten. Kantonsvertreter befürchten, dass weitere Unternehmen vergleichbar bedauerliche Schritte unternehmen werden.

Regierungsrat Matthias Michel weiss von zahlreichen Anrufen aus der Wirtschaft zu berichten, die eine „tiefe Verunsicherung“ der Firmen nach dem Zuwanderungsentscheid signalisieren. Michel geht davon aus, dass die Unternehmen die Möglichkeiten der vorerst noch bestehenden Freizügigkeit noch voll ausschöpfen werden, Entscheidungen über den Ausbau bestehender Kapazitäten oder Neuansiedlungen jedoch vertagen.

Aktuelle Volksentscheide bedrohen Attraktivität der Schweiz als Wirtschaftsstandort

Aus Zürich kam die Nachricht, dass ein Technologie-Unternehmen nicht nur plant, zukünftige Aktivitäten in der Schweiz zu überdenken, sondern eine bestehende Software-Abteilung nach Osteuropa verlegen wird. Die bisherigen Angestellten verlieren ihren Arbeitsplatz. Ein beteiligter Manager teilte der Zeitung mit, dass die Evaluierung der Standortentscheidung schon seit längerem lief, das Resultat des Volksentscheids jedoch schliesslich den Ausschlag für die Abwanderung gegeben habe. Öffentlich genannt werden wolle seine Firma nicht, solange sie den Sachverhalt nicht offiziell kommuniziert hat. Auch ein neues Pharmawerk wird vermutlich nicht in der Schweiz, sondern in Singapur gebaut, wodurch 300 neue Arbeitsplätze in der Schweiz gar nicht erst entstehen würden. Uwe E. Jocham, Chef der Schweizer Tochtergesellschaft des australischen Pharmakonzerns CSL, hat nach eigenen Angaben Schwierigkeiten, seine australischen Vorgesetzen in Telefonaten zu beschwichtigen. Durch die „aktuelle Ballung wirtschaftspolitischer Entscheide“ – neben der SVP-Initiative auch die Minder-Initiative gegen „Abzockerei“ sowie die abgelehnte 1:12-Initiative für mehr Lohngerechtigkeit – sieht er die wirtschaftliche Attraktivität des Standorts Schweiz bedroht.


Abgelehnte 1:12-Initiative für mehr Lohngerechtigkeit. (Bild: Agentur belmedia GmbH / belmedia.ch)


Der Volksentscheid über eine Begrenzung der Zuwanderung beeinträchtigt offensichtlich schon lange vor seiner Umsetzung die Schweizer Wirtschaftslandschaft. Die drei Beispiele zeigen, dass Schweizer Arbeitsplätze verlorengehen könnten, bevor das Kontingentsystem überhaupt definiert ist. Der Direktor des Industrieverbandes Swissholdings, Christian Stiefel, meint ebenso wie Jocham, dass die drei Volksentscheide das Vertrauen international tätiger Unternehmen im Hinblick auf stabile Rahmenbedingungen in der Schweiz nachhaltig erschüttert haben. Mehr als eine zugezogene Firma dürfte überlegen, ob ihre Standortwahl auch unter den neuen Bedingungen Bestand hat.

Verlässliche Schweizer Rahmenbedingungen – bis auf weiteres nur noch eingeschränkt

In der Vergangenheit hat die Schweiz nicht zuletzt durch ihre verlässlichen Rahmenbedingungen neue Unternehmen und Industrien angezogen. Reaktionen der internationalen Medien signalisieren, dass die globale Wirtschaft diesen Standortvorteil nicht mehr in vollem Umfang als gegeben sieht. Auf Schweizer Spitzenmanager, die in internationalen Unternehmen tätig sind, kommt in den nächsten Wochen und Monaten harte Überzeugungsarbeit zu. Beispielsweise kann CSL-Behring-Chef Jocham schlüssig belegen, dass selbst eine strenge Kontingentierung ausländischer Mitarbeiter das operative Geschäft nicht nachhaltig stören würde. 83 Prozent der derzeit 1.250 CSL-Angestellten in Bern besitzen einen Schweizer Pass – der Konzern ist also durchaus in der Lage, qualifizierte Schweizer für seine Jobs zu finden. Ob solche Argumente die australische Konzernzentrale überzeugen werden, steht auf einem anderen Blatt.

Der Gesetzgeber hat drei Jahre Zeit, eine Kontingentierungsregelung zu finden. Für die Wirtschaft bedeutet dieser Zeitraum drei Jahre Unsicherheit, die wesentliche Personalentscheidungen betrifft. Swissholdings-Chef Christian Stiefel vergleicht die aktuelle Lage mit dem Jahr 1992, als die Entscheidung gegen den EWR-Beitritt eine Phase wirtschaftlicher Stagnation zur Folge hatte. Der Chef-Ökonom von Economiesuisse, Robert Minsch, erwartet, dass gewisse Investitionen nicht erfolgen und viele Unternehmen bis auf weiteres zögern werden, sich langfristig an den Standort Schweiz zu binden. Andere Experten verweisen auf Fortschritte von Staaten wie den Niederlanden, Irland oder Singapur im Standortwettbewerb, durch welche die Schweiz sukzessive ins Hintertreffen geraten könnte.

Die Credit Suisse hat vor wenigen Tagen eine Studie vorgelegt, in der sie prognostiziert, dass in der Schweiz aufgrund des Volksentscheids in den kommenden drei Jahren mehr als 80.000 eigentlich erwartete neue Stellen nicht geschaffen werden. Die öffentliche Resonanz auf die Analyse war umstritten. Claude Maurer – einer der Studienautoren – hält den Kritikern entgegen, dass sein Team diese Prognose eher zurückhaltend kalkuliert hat. Den „negativen psychologischen Effekt“ des Referendums hält er für weniger gravierend als die Insolvenz von Lehman Brothers, jedoch für stärker als das Nein zur Mitgliedschaft im EWR.

Von wegfallenden respektive nicht neu entstehenden Arbeitsplätzen seien keineswegs nur Ausländer, sondern ebenso Schweizer direkt betroffen. Auch das Argument der Unterstützer der SVP-Initiative, dass sich die Schweiz künftig vor allem auf das gezielte Anwerben von hochqualifizierten Ausländern konzentrieren solle, lässt Claude Maurer nicht gelten – eine Wirtschaft, die nur Spitzenkräfte anzieht, könne auf lange Sicht nicht wachsen. Ein Extrembeispiel sei Frankreich mit seinem hohen BIP pro Kopf, aber auch einer sehr hohen Arbeitslosenquote.

Weitere Unsicherheiten für Gesundheitsbranche und Energieversorger

In einigen Bereichen und Branchen kommen weitere Unsicherheiten hinzu. Ohne Personenfreizügigkeit wird es der Gesundheitsbranche beispielsweise noch schwerer fallen als bisher, die Alterung der Gesellschaft abzufedern. Die Schweizer Stromversorger fürchten den Ausschluss von der 2015 beginnenden europäischen Marktkoppelung im Energieversorgungssektor. Die Verhandlungen über das Stromabkommen zwischen der Schweiz und der EU wurden vorläufig gestoppt, die EU wolle das weitere Vorgehen zunächst im „breiteren Kontext“ der gegenseitigen Beziehungen überprüfen. Die SVP fühlt sich in ihrer Politik durch diese Unwägbarkeiten im Übrigen nicht angefochten – im Bundesrat forderte sie in der vergangenen Woche Sofortmassnahmen, um die von ihr für die kommenden drei Jahre erwartete Zuwanderungswelle in die Schweiz zu stoppen.

 

Oberstes Bild: © buyman – Fotolia.com

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