Versicherte wünschen sich mehr als nur Policen
Wie eine Befragung ergab, sehen mehr als 50 Prozent der Schweizer Versicherungsunternehmen auch als Berater bei Themen wie Autokauf, Gesundheit und Schutz von Eigentum.
Rund 75 Prozent wären bereit, mehr Daten preiszugeben. Für die Versicherer eröffnet der Wandel vom Produkt- zum Lösungsanbieter neue Umsatzchancen und vertieft die Kundenbindung. Im Branchenranking nach Kundenloyalität belegt die Schweizerische Mobiliar Platz eins in Komposit, in Leben hat die Basler die Nase vorn in einem insgesamt schwachen Feld.
Noch lassen die Schweizer Versicherer grosses Potenzial ungenutzt. Denn gut die Hälfte der Eidgenossen würde neben Policen auch andere Produkte und Dienstleistungen bei ihrer Versicherung kaufen. Das Spektrum reicht vom Pkw bis hin zur Mitgliedschaft in einem Fitnesscenter.
Dies ergab die erstmalige Befragung von 4.500 Kunden grosser Schweizer Versicherer im Rahmen der weltweiten Studie „Customer Behavior and Loyalty in Insurance“ der internationalen Managementberatung Bain & Company mit insgesamt 164.000 Versicherten in 19 Ländern. Dabei ist die Offenheit für zusätzliche Angebote der Versicherer in vielen Ländern noch grösser als in der Schweiz. Dies gilt vor allem für Schwellenländer wie Mexiko und China, aber auch für die USA. (Abb. 1)
Dr. Henrik Naujoks, Bain-Partner und Leiter der Versicherungs-Praxisgruppe in der Region EMEA, sieht darin eine Steilvorlage für die Branche: „Den Versicherern kann mit zusätzlichen Produkten und Dienstleistungen nicht nur der angestrebte Wandel vom Produkt- zum Lösungsanbieter gelingen. Vielmehr sind damit auch neue Umsatzpotenziale verbunden und die Möglichkeit, weitaus intensiver mit dem Kunden zu interagieren.“
Insbesondere Marktführer sind hier äusserst aktiv. Beste Beispiele sind die Mobiliar mit dem Kauf von 50 Prozent von Scout24 in der Schweiz, HUK-Coburg mit den günstigen Serviceangeboten ihrer Vertragswerkstätten und ihrem ersten Autohaus sowie Discovery mit weitreichenden Kooperationen im Gesundheitsbereich.
In welchem Mass die Schweizer ihre Versicherung als Partner sehen, unterstreicht ein weiteres Studienergebnis. Über 50 Prozent der Befragten erklären, dass sie ihren Versicherern ausgewählte Daten über ihre Gesundheit, ihre Finanzen oder ihre Konsumgewohnheiten bereitstellen würden.
Mehr als 20 Prozent wären sogar bereit, sämtliche Daten zu teilen. Mit diesen Werten liegt die Schweiz im internationalen Vergleich im oberen Mittelfeld. Noch grösser ist die Freigiebigkeit der Kunden hinsichtlich ihrer persönlichen Daten insbesondere in asiatischen Märkten. (Abb. 2)
„Das ist eine einmalige Chance für Versicherer“, betont Naujoks. „Sie können mehr über die Bedürfnisse ihrer Kunden erfahren, auf dieser Basis gezielt mit innovativen Dienstleistungen die Kontaktfrequenz erhöhen und damit eine traditionelle Schwäche der Branche ausmerzen.“ Und er fügt hinzu: „Häufige Interaktionen sind und bleiben ein Schlüsselfaktor für eine hohe Kundenloyalität.“
Lebensversicherer überwiegend als kritisch angesehen
Bain misst Kundenloyalität seit Jahren über alle Branchen hinweg mit dem Net Promoter® Score (NPS®). Im Schweizer Versicherungsmarkt liegt der NPS der Kunden, die in den vergangenen zwölf Monaten Kontakt mit ihrer Versicherung hatten, gut 25 Prozentpunkte höher als bei denen mit weniger als einer Interaktion im Jahr.
Unter den Sachversicherern hat die Mobiliar mit 43 Prozent den mit grossem Abstand höchsten NPS erzielt. Auch bei den meisten anderen Sachversicherern in der Schweiz überstieg die Zahl der begeisterten Kunden die der Kritiker. In der Lebensversicherung hingegen herrscht Unmut. Die messbare Kundenloyalität befindet sich in einem insgesamt eng beieinanderliegenden Feld im negativen Bereich.
Einzige Ausnahme ist Gewinner Basler. Hohe NPS-Werte wirken sich direkt auf das operative Geschäft aus, da besonders zufriedene Kunden in der Regel mehr Versicherungsprodukte kaufen und dem Unternehmen länger treu bleiben.
Der Bain-Studie zufolge genügt immer weniger Versicherten die herkömmliche, oft silohafte Trennung der Anlaufstellen in Agenturen, Callcenter oder Online. Hybride Kunden sind längst Normalität. In der Schweiz nutzen knapp 50 Prozent der Versicherten sowohl analoge als auch digitale Kanäle.
Fast ein Drittel der Lebensversicherungskunden will Vertrag erweitern
Digitale Kanäle erleichtern es den Versicherern, nicht nur die Zahl der Interaktionen zu erhöhen, sondern letztendlich auch ihre Beitragseinnahmen. Selbst in ihrem angestammten Geschäft mit dem Verkauf von Policen schöpfen sie derzeit noch nicht alle Möglichkeiten aus. Jeder fünfte Schweizer ohne Lebensversicherung würde eine solche erwerben.
Rund 30 Prozent der Policeninhaber geben an, ihren bestehenden Vertrag erweitern oder ein zusätzliches Produkt kaufen zu wollen. Ganz oben auf der Wunschliste der Versicherten steht die bessere Absicherung des Familieneinkommens. „Viele haben die Lebensversicherung zu früh totgesagt“, so Bain-Partner Naujoks. „Der Bedarf ist da, doch es fehlt der Dialog zwischen Anbietern und Kunden.
“ Nach Überzeugung von Bain können Versicherungsunternehmen mit einem kundenzentrierten Geschäftsmodell und zusätzlichen digitalen Services die Wechselbereitschaft eindämmen, die Kundenbindung stärken und sich einen höheren Anteil am Finanzbudget der Eidgenossen sichern.
„Unsere diesjährige Versicherungsstudie ist ein Weckruf für die Branche“, erklärt Naujoks. „Nur wenn Versicherer die Digitalisierung zügig vorantreiben, können sie sich als Lösungsanbieter für Kernthemen wie Wohnen, Mobilität und Gesundheit etablieren.“
Net Promoter® Score (NPS®)
Bain misst Kundenloyalität seit mehr als zehn Jahren branchen- und länderübergreifend mit dem Net Promoter Score. Diese Kennzahl ergibt sich aus den Antworten auf eine einzige Frage: „Auf einer Skala von null bis zehn, wie wahrscheinlich ist es, dass Sie diese Versicherung einem Freund oder Kollegen weiterempfehlen?“
Die Antworten werden drei Kategorien zugeordnet. Dabei hat sich gezeigt, dass nur Werte von neun oder zehn für wirklich loyale Kunden stehen („Promotoren“), sieben und acht passiv Zufriedene sind und Bewertungen von sechs oder weniger als Kritiker eingestuft werden müssen. Wird der Anteil der Kritiker von dem der Promotoren subtrahiert, ergibt sich der NPS.
Quelle: Bain & Company
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