Erreichbar bis zum Umfallen: Warum Stress im Job die Wirtschaft ausbremst

Nach Feierabend und im Urlaub abschalten? In der Schweiz ist jeder zweite Arbeitnehmer auf Dauerempfang. Repräsentative Umfragen bestätigen: 43 Prozent der Befragten arbeiten für Chefs, die das erwarten. Drei Viertel beantworten E-Mails und über 40 Prozent führen geschäftliche Telefonate. Machen sie es gern? Nein, die Hälfte der Schweizer Arbeitnehmer lehnt es ab, ständig erreichbar zu sein.

Der Ferienreport 2014 des Schweizer Reiseexperten Kuoni ist eindeutig: Insgesamt möchten 93 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer auch am Strand nicht auf SMS, E-Mail, Smartphone und Tablet verzichten, aber – so eine durch comparis.ch beauftragte Umfrage des Link-Instituts – 53 Prozent schalten diese im Urlaub regelmässig ab. Jeder Achtzehnte telefoniert regelmässig mit Chef und Kollegen.

Kein Wunder, dass es 28 Prozent der Befragten als stressig empfinden, das Smartphone dabeizuhaben. Trotzdem packen es 80 Prozent in den Koffer, so dass Schweizer Chefs 40 Prozent ihrer weiblichen und 53 Prozent ihrer männlichen Mitarbeiter auch am Urlaubsort erreichen. Arbeiten statt Erholung? Schon vor Längerem forderte die ehemalige deutsche Arbeitsministerin Ursula von der Leyen klare Regeln für Handynutzung und E-Mail-Verkehr.

Schliesslich verlange das Arbeitsschutzgesetz von Arbeitgebern, die Gesundheit ihrer Mitarbeiter aktiv zu schützen. Betriebe müssten Zeiten der Erreichbarkeit von Mitarbeitern genau definieren, wobei Mehrarbeit einen Ruheausgleich verdiene. Wie bitte? Anscheinend reichen bestehende Arbeitszeitregelungen nicht aus, um ungezügeltes Vorgesetzten-Engagement nach Dienstschluss auszubremsen.

Schweizer Konzerne fordern Erreichbarkeit

Besonders bei den im Schweizer Aktienindex SMI vertretenen Grosskonzernen ist auch nach Dienstschluss kein Ende der Informationsflut abzusehen, wie eine Stichprobe von handelszeitung.ch ergab. Deutschland denkt bereits um: Der VW-Konzern schaltet seinen Mailserver nachts bewusst ab, Daimler löscht Mails an Mitarbeiter im Urlaub automatisch per Abwesenheitsassistent. Schweizer Unternehmen wie der Elektrotechnikkonzern ABB sehen das anders.

So argumentiert Chef Ulrich Spiesshofer, in einem international aufgestellten Unternehmen müssten Projektleiter und Servicemitarbeiter im Notfall gut digital erreichbar sein. Nur im Notfall? Eine Einschränkung Spiesshofers, die verrät, dass dem ABB-Chef bewusst ist, dass absolute Erreichbarkeit auch in der Schweiz zunehmend kritisch betrachtet wird. Zudem ABB innerbetrieblich in 100 Ländern für seine um 150’000 Mitarbeiter regeln kann, was als echter Notfall gilt.

Auch der Industriekonzern Sulzer führt die internationale Vernetzung ins Feld und den ausdrücklichen Wunsch der Sulzer-Mitarbeiter nach ständiger Erreichbarkeit. Allerdings sind auch deutsche Firmen wie Bayer oder Eon global aufgestellt – und kommen ohne aus. Nahrungsmittelriese Nestlé dagegen will nicht darauf verzichten, aber setzt bei Mails auf Eigenverantwortung seiner Mitarbeiter. Die Frage nach Sanktionen für den Fall verantwortungslosen Handelns nach Dienstschluss scheint berechtigt: Riskiere ich meine Kündigung, wo der Arbeitsschutz doch gebietet, dass ich meine Freizeit zur Erholung nutze?


Seit Aufkommen von Smartphones sei der psychosoziale Druck und Stress am Arbeitsplatz gestiegen. (Bild: MJTH / Shutterstock.com)


Gewerkschaften: Recht auf Unerreichbarkeit

Martin Flügel, Präsident von Travail Suisse, der unabhängigen Dachorganisation für 170’000 Arbeitnehmende, fordert Schweizer Unternehmen auf, die Datenflut durch klare Regelungen in den Griff zu bekommen. Seit Aufkommen von Smartphones sei der psychosoziale Druck und Stress am Arbeitsplatz gestiegen, meint auch Pepo Hofstetter von der Gewerkschaft Unia, die ein Recht auf Unerreichbarkeit fordert. Wer Erreichbarkeit in der Freizeit erwarte, müsse sie entsprechend entschädigen.

Doch ohne klare rechtliche Regelungen ist auch dieser Vorschlag nicht umsetzbar: Aktuell hat BMW Deutschland zwar das Recht auf Unerreichbarkeit offiziell formuliert und erfasst Arbeit in der Freizeit auf Stundenkonten, aber die rechtliche Trennlinie zwischen vertraglich vereinbarter Dienstzeit und Privatleben verschwimmt weiter.

Ständige Erreichbarkeit stresst: Nach der jetzt veröffentlichten Schweizerischen Gesundheitsbefragung 2012 des Bundesamtes für Statistik (BFS) ist knapp ein Fünftel der Erwerbstätigen starken beruflichen Belastungen ausgesetzt, Tendenz steigend. Die Wahrscheinlichkeit depressiver Erkrankungen liegt bei dieser Personengruppe bis zu sechs Mal höher, die Zahl der Konsultationen aufgrund psychischer Probleme stieg in den letzten 15 Jahren von 4.1 Prozent auf 5.4 Prozent an.

Was tun? Soziale Unterstützung als Ressource wirkt depressiven Verstimmungen entgegen, denn sie lässt Anforderungen besser bewältigen. Aber nur 39 Prozent der Schweizer erfreuen sich starker sozialer Unterstützung. Fakt ist: Wer kaum Freizeit hat, kann auch seine sozialen Kontakte nicht pflegen. Denn bei totaler Erreichbarkeit dominiert die Arbeit und drängt Familienleben, aber auch freiwilliges Engagement in Quartier, Schule oder Verein an den Rand. Laut Gewerkschaftsumfragen wünschen sich über 80 Prozent der Schweizer Familien mehr Zeit miteinander.

OECD-Studie: Volkswirtschaftliche Schäden in Milliardenhöhe

Ständige Erreichbarkeit und zu geringe Erholungspausen machen krank, warnt auch Frank Brenscheidt von der deutschen Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (Baua). Wer sein Diensthandy nach Absprache am Feierabend ausschaltet, übernimmt also Verantwortung für die eigene Gesundheit und Leistungsfähigkeit. Auch Travail Suisse beklagt gestiegenen Termindruck und Arbeitstempo. Hohe Arbeitsbelastungen, die das Staatssekretariat für Wirtschaft Seco auf 10 Milliarden Franken pro Jahr – zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) – schätzt.

Dazu verkürzt Stress das Erwerbsleben: Mit 63 ist nur noch die Hälfte der Menschen in der Schweiz erwerbstätig, 40 Prozent werden aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig pensioniert. Kann es sich die Schweiz leisten, Arbeitskräfte zu verschleissen? Eindeutig nein, wo aus demografischen Gründen Arbeitskräftemangel droht. Auch die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) verweist in ihrer Studie „Psychische Gesundheit und Beschäftigung: Schweiz“ darauf, dass die wachsende Zahl psychischer Erkrankungen in entwickelten Volkswirtschaften Kosten verursacht, die dann Bevölkerung, Arbeitgeber und Wirtschaft tragen müssen.

Sind ausgeruhte Mitarbeiter also gesünder? Noch mehr, sie sind auch produktiver, weil motivierter – Investitionen in deren Gesundheit werden durch steigende Produktivität mehr als wettgemacht. So fordert Niklas Baer, Fachstellenleiter für Rehabilitation an der Psychiatrie Baselland, eine bessere Integration psychisch Kranker in die Arbeitswelt. Denn Arbeit schade nicht nur, sie helfe auch, gesund zu werden und schenke Identität, Bestätigung und Selbstwertgefühl, ist der Mitautor der OECD-Studie überzeugt – und schlägt einen intensiveren Austausch der krankschreibenden Psychiater mit den Arbeitgebern vor, um durch gemeinsame Lösungen Geld zu sparen und Arbeitsplätze zu retten.

Ärzte sollten sich, statt das Vermeidungsverhalten krankgeschriebener Berufstätiger zu unterstützen, besser aktiv bei der Lösung von Arbeitsproblemen einschalten. Ein zwar mutiger, aber nicht nur datenschutzrechtlich nicht unbedenklicher Lösungsansatz: Denn er macht unter ständiger Erreichbarkeit ächzende Mitarbeiter selbst für ihre Situation verantwortlich. Besser, Schweizer Unternehmen packen die Ursachen für Stress und Produktionseinbussen bei der Wurzel – indem sie entlastende Neueinstellungen realisieren, die einer klaren Trennung von Arbeit und Freizeit die Basis bereiten.

 

Oberstes Bild: © DenisShumov – Shutterstock.com

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