Ständige Erreichbarkeit - die Crux der Schweizer Arbeitswelt?

Smartphones stehen exemplarisch für das Prinzip der ständigen Erreichbarkeit. Berufliche E-Mails checken kurz vor Mitternacht oder im Urlaub – alles kein Problem. Zumindest für die Unternehmen nicht, immer mehr Mitarbeiter bringt der Einsatz rund um die Uhr allerdings an ihre Grenzen.

Deutsche Konzerne, beispielsweise die Automobilhersteller VW oder kürzlich BMW, wollen die Erreichbarkeit ihrer Angestellten administrativ beschränken. Schweizer Firmenlenker meinen, dass ein solcher Schritt nicht funktioniert. ABB-Chef Ulrich Spiesshofer liess wissen, dass die digitale Erreichbarkeit der Mitarbeiter für ein international tätiges Unternehmen unabdingbar ist.

Für viele Arbeitnehmer in der Schweiz ist der Arbeitstag mit dem Verlassen des Büros keineswegs zu Ende. Arbeit in den Abendstunden und am Wochenende ist normal. Laut einer aktuellen Untersuchung arbeitet jeder zweite Schweizer sogar im Urlaub weiter. Von den 1.200 Befragten lesen und schreiben drei Viertel in den Ferien arbeitsbezogene E-Mails. Mehr als 40 Prozent führen Telefongespräche mit der Firma und mit Business-Partnern.

Beschäftigte in Schweizer Grosskonzernen müssen besonders oft durchgehend erreichbar sein

Die Anforderungen an die Erreichbarkeit der Beschäftigten in Schweizer Grosskonzernen sind offenbar besonders hoch. Für die Mitarbeiter der im Schweizer Aktienindex SMI vertretenen Unternehmen ist das Bewältigen der nicht abreissenden Informationsflut auch nach dem offiziellen Dienstschluss nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Betroffen sind davon nicht nur die obersten Ebenen der Firmenhierarchie, sondern auch Projekt- und Service-Mitarbeiter sowie Führungskräfte im mittleren Management.

Beim Elektronik-Hersteller ABB, beim weltweit agierenden Baustoffkonzern Holcim oder bei der Swisscom müssen Mitarbeiter grundsätzlich dauerhaft rund um die Uhr erreichbar sein. Der Industriekonzern Sulzer führt die internationale Vernetzung als den wichtigsten Grund für die ständige Erreichbarkeit seiner Mitarbeiter über Smartphones und Laptops an. Eine Sprecherin des Unternehmens teilte mit, dass die Dauerkommunikation mit der Firma von den Beschäftigten „explizit erwünscht“ sei. Ihre Aussage legt nahe, dass viele Schweizer also eigentlich gerne nach Dienstschluss oder in den Ferien arbeiten. Umfragen zu diesem Thema zeigen allerdings das exakte Gegenteil: Mehr als die Hälfte der Schweizer spricht sich gegen die Praxis aus. Die Unternehmen kontern in der Regel, dass die Verantwortung für ein vertretbares Mass an Arbeit in der Freizeit letztendlich bei den Angestellten liege.


Bundesamtes für Statistik zeigt, dass der gefühlte Stress am Arbeitsplatz immer grösser wird. (Bild: Gefühlter Stress / pixelio.de)


Gefühlter Stress am Arbeitsplatz wird immer grösser – klare Regelungen fehlen

Die soeben publizierte Gesundheitsbefragung des Bundesamtes für Statistik zeigt, dass der gefühlte Stress am Arbeitsplatz immer grösser wird. Jeder fünfte Erwerbstätige in der Schweiz steht demnach meistens oder fast immer unter berufsbedingtem Stress. Ebenso viele Arbeitnehmer geben an, sich im Job „emotional verbraucht“ zu fühlen. Medizinstatistiker wissen, dass Menschen, die an ihrem Arbeitsplatz viel Stress erfahren oder explizit Burnout-gefährdet sind, ein fünf bis sechs Mal höheres Risiko tragen, an Depressionen zu erkranken als Erwerbstätige, welche derartige Belastungen nicht erfahren. Entsprechende Daten wurden unter anderem durch das Staatssekretariat für Wirtschaft sowie das Schweizerische Gesundheitsobservatorium erhoben.

Die Gewerkschaften sehen diese Entwicklung kritisch. Der Präsident des Dachverbandes Travail Suisse, Martin Flügel, konstatiert, dass der Stress in Schweizer Unternehmen kontinuierlich steigt. Die Gründe dafür finden sich vor allem in der Omnipräsenz digitaler Produkte. Stress im Job und psychosozialer Druck haben auch aus Sicht anderer Arbeitnehmervertreter, beispielsweise Pepo Hofstetter von der Gewerkschaft Unia, beträchtlich zugenommen. Beide Gewerkschafter fordern von den Schweizer Firmen klare Ansagen gegenüber ihren Mitarbeitern. Die Forderung nach ständiger Erreichbarkeit wird von den wenigsten Chefs klar und deutlich formuliert. Der Normalfall ist, dass nach Dienstschluss offiziell keine Mehrarbeit erwartet wird, der Vorgesetzte aber auch nichts dagegen hat, wenn der Mitarbeiter diese trotzdem leistet. Der Nahrungsmittel-Riese Nestlé erklärt ausdrücklich, dass es seinen Mitarbeitern selber überlassen bleibt, ob und wie sie auf E-Mails in der Freizeit reagieren. Die SBB teilt mit, dass sie den Umgang mit den elektronischen Medien als eine Führungsaufgabe betrachtet.

Klare Regelungen, welcher Grad an Erreichbarkeit erwartet wird, gibt es in den meisten Unternehmen nicht – erwartet werden kann, dass ständige Erreichbarkeit der Mitarbeiter für die Chefs auch ein Kriterium zur Leistungsbewertung ist. Sowohl die Travail Suisse als auch die Unia halten diesen Zustand für nicht tragbar. Unia-Vertreter Hofstetter erklärt, dass seine Organisation künftig ein „Recht auf Unerreichbarkeit“ vertreten wolle. Unternehmen und Sozialpartner sollten sich auf klare Regeln einigen, die Appelle an die Selbstverantwortung der Mitarbeiter reichten hier nicht aus. Und selbstverständlich seien die Firmen in der Pflicht, Arbeit in der Freizeit – wenn sie denn erwartet werde – auch entsprechend zu vergüten.

Die Nachbarn: Vor allem deutsche Konzerne wenden sich gegen die digitale Flut

Ausserhalb der Schweiz haben die Unternehmen die von Travail Suisse, Unia & Co. benannten Probleme offenbar bereits erkannt und setzen sich mit ihnen auf andere Weise auseinander. Vor allem deutsche Konzerne wenden sich gegen die digitale Flut – und zwar vor allem jene Firmen, die in globalem Massstab tätig sind. Der Pharmakonzern Bayer und der Energieversorger Eon kommunizieren ihren Angestellten, dass sie E-Mails in ihrer Freizeit nicht bearbeiten sollten. Bei VW haben die Arbeitnehmervertreter bereits vor zwei Jahren eine Regelung durchgesetzt, nach der die E-Mail-Server – ausdrücklich auch für Smartphones – eine halbe Stunde nach dem offiziellen Feierabend abgeschaltet werden. BMW erfasst die digitale Mehrarbeit in der Freizeit neuerdings auf einem Stundenkonto. Schweizer Unternehmen haben sich hier bisher nicht für eine klare Strategie entschieden.

 

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