Aktenordner – einfach unverbesserlich

Es gibt Dinge, die ändern sich nie. Ihre Konstruktion und ihr Design sind so perfekt, dass eine Verbesserung weder nötig noch möglich ist. Keine Zeit und kein Zeitenwandel können ihnen etwas anhaben. Und vermutlich werden sie auch in 50 Jahren noch genauso aussehen und in gleicher Weise funktionieren wie heute. Eins dieser Dinge ist der in jedem Büro anzutreffende Aktenordner.

Auf kaum ein von Menschen geschaffenes Produkt trifft die alte Weisheit „Form follows function“ so zu wie auf den Ordner, um den es in diesem Artikel gehen soll. An seiner Gestaltung findet sich nichts – aber auch gar nichts – Überflüssiges. Jedes einzelne Detail an ihm erfüllt seine vorbestimmte Funktion.

Die zwischen den Pappdeckeln befindlichen Metallbügel werden von einem unverrückbar befestigten Blech auf der Innenseite gehalten und nehmen nach DIN A4 bemessene Blätter in gewünschter Reihenfolge auf. Jene wahlweise nach alphabetischem, chronologischem oder thematischem Aspekt sortierten Bögen presst der Federmechanismus des sogenannten Tippklemmers fest zusammen.

Damit Ordner-Nutzer wissen, was in den Heftern lagert, befindet sich an der Aussenseite des Ordnerrückens eine transparente Plastiktasche, in die beschriftete Papierstreifen eingelegt werden können. Gängige Alternativen dazu sind passgenaue Aufkleber mit Beschriftungsfeldern oder dekorativen Aufdrucken. Für sicheren Stand sorgen die beiden schlitzförmigen Aussparungen im Deckel, aus welchen die ordnenden Metallbügel beim Zuklappen wenige Millimeter herausragen. Ein Detail, das nicht nur die Stabilität erhöht, sondern gleichzeitig Platz sparen hilft, weil der Ordner sich dadurch etwas verjüngt.

Weitere durchdachte Einzelheiten sind das von Metall umrandete Griffloch im Ordnerrücken und die metallverstärkten Kanten an den Unterseiten. Während Ersteres dazu dient, den Ordner in einem vollen Regal besser greifen und herausziehen zu können, lassen Letztere ihn leichter über den Regalboden gleiten und bewahren ihn gleichzeitig vor Beschädigung durch Reiben oder Stossen.

Ein Kind deutscher Gründlichkeit

Wer, wenn nicht ein besonders gewissenhafter Deutscher, hätte dieses Meisterwerk erfinden können? Im Grunde genommen waren es zwei: Der aus Bonn stammende Franz Soennecken lieferte 1886 den Prototyp nebst zugehörigem Lochgerät, auf welches er umgehend ein Patent anmeldete. Doch Soenneckens Erfindung war nicht ausgereift. Der Unternehmer Louis Leitz aus Stuttgart sah in ihr eine „relativ primitive Vorrichtung“, weil sie lediglich „zum Aufspiessen von Papier“ taugte. Daher entwickelte er sie umgehend weiter und kreierte den „Leitz Registrator auf Holzbrett“, den er 1893 mit den heute berühmten Bügeln inklusive Umlegehebel versah.

Damit war ab sofort eine – laut Hersteller – „buchmässige Aufbewahrung“ von Unterlagen möglich. Während zuvor stets nur ein Blatt Papier aufs andere geheftet werden konnte, erlaubte der Leitzsche Mechanismus das Hin- und Herblättern bzw. das Aus- und Einheften einzelner Bögen. Dem neu entwickelten Ordner konnte jederzeit an beliebigen Stellen Material hinzugefügt oder entnommen werden. Von Deutschland ausgehend revolutionierten die praktischen Sammelmappen das Ablagesystem unzähliger Büros und Behörden.

Die dunkle Seite des Ruhms

Leider trugen sie nicht nur im positiven Sinne zur Ordnung bei. Kurz nachdem 1911 das berühmte Griffloch entwickelt worden war, fungierten die Aktensammler auch als Teil einer blutrünstigen Kriegsmaschinerie, die nur wenige Jahrzehnte später einen grausamen Höhepunkt finden sollte. Ab den frühen 1940er-Jahren dienten Ordner unter anderem der Erfassung, Verfolgung, Unterdrückung und Vernichtung unzähliger Menschenleben – und tun dies in manchen Diktaturen bis heute.

Doch ihre finstere Vergangenheit macht Ordner zugleich zu wertvollen Zeitzeugen und Instrumenten der Rechtsprechung. Nirgendwo sonst finden sich Verbrechen so lückenlos dokumentiert wie in den Unterlagen des „Dritten Reiches“. Insofern haben die Sammelmappen sich selbst rehabilitiert. Nach wie vor tragen sie weltweit zur Ordnung, Übersicht und Effizienz von Arbeitsabläufen bei.


Trotz elektronischer Übermittlung von Daten, digitalisierter Ablage und "Weiterleiten"-Funktion wird noch immer jede Menge Papier bedruckt, gesammelt und abgeheftet. (Bild: RAJ CREATIONZS / Shutterstock.com)
Trotz elektronischer Übermittlung von Daten, digitalisierter Ablage und „Weiterleiten“-Funktion wird noch immer jede Menge Papier bedruckt, gesammelt und abgeheftet. (Bild: RAJ CREATIONZS / Shutterstock.com)


Keine nennenswerten Veränderungen

Der Bedarf an Ordnern ist seit ihrem Siegeszug ungebrochen hoch. Um sinkenden Absatz brauchen sich führende Marken wie Leitz, Herlitz & Co. auch in Zeiten moderner Technik keine Gedanken zu machen. Trotz elektronischer Übermittlung von Daten, digitalisierter Ablage und „Weiterleiten“-Funktion wird noch immer jede Menge Papier bedruckt, gesammelt und abgeheftet. Einer kürzlich vorgenommenen Schätzung des „Wall Street Journal“ zufolge ist der diesbezügliche Verbrauch seit Einführung der E-Mail sogar um rund 40 % gestiegen – und hat damit zum ersten Mal eine Änderung des bewährten Ablagesystems herbeigeführt.

Die Bügel der neuesten Ordner-Modelle besitzen einen grösseren Öffnungswinkel und können dadurch deutlich mehr Papier aufnehmen als ihre Vorgänger. Auch die nachwachsende Zielgruppe wird bei der Produktion bedacht und bekommt farbig bedruckte Kollektionen oder Plastikordner mit abgerundeten Ecken zur Verfügung gestellt. Abgesehen von solchen eher zaghaften Neuerungen aber bleiben die Hersteller in puncto Design und Funktionalität ganz beim Alten. Ein Ordner ist eben ein Ordner ist eben ein Ordner …

 

Oberstes Bild: © Alexander Chaikin – Shutterstock.com

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Mehr zu Christiane Dietering

Christiane Dietering hat eine handwerkliche, zwei kaufmännische und eine Autoren-Ausbildung absolviert. Sie arbeitet als freie Texterin, Rezensentin und Journalistin in den Themenbereichen Kunst und Kultur. Ihre Hauptauftraggeber sind Veranstalter von Musikaufführungen, Lesebühnen und Erotik-Events.

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