Typisch Schweiz?!

Kaum ein Produkt repräsentiert die Schweiz so sehr wie das berühmte Schweizer Taschenmesser. Seine präzise Verarbeitung, die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten und nicht zuletzt eine schlichte, aber dennoch markante Gestaltung lassen eindeutig auf „Made in Switzerland“ schliessen – oder…?!

Nein, leider nicht. Das nahezu weltweit bekannte Multifunktionswerkzeug ist ebenso wenig eine Erfindung der Eidgenossen wie Schokolade und Käse. Gleichwohl einzelne Sorten der genannten Dinge aus der Schweiz stammen bzw. hier verfeinert wurden, blicken die ihnen zu Grunde liegenden Erzeugnisse auf eine globale Entwicklungsgeschichte zurück. Und genau wie die Herstellung von Kakao- und Milchprodukten in vielen Teilen der Welt ihren Anfang nahm, fand auch das wohl berühmteste aller Messer seinen Weg in die Schweiz bzw. aus der Schweiz erst nach und nach…

Es mag ein wenig trösten, dass zumindest seine übergeordnete Bezeichnung in unmittelbare Nähe der Eidgenossenschaft führt: Der Begriff „Messer“ ist eine Ableitung des westgermanischen Wortes „matizsahsa“, das sich als „saxo“ bzw. „sasso“ auch in der lateinischen bzw. italienischen Sprache wiederfindet. Die dortige Bedeutung „Stein“ lässt darauf schliessen, aus was für einem Material Messer ursprünglich bestanden und aus welcher historischen Epoche sie stammen. Tatsächlich waren die Faustkeile der Steinzeit nicht nur die ersten Messer überhaupt, sondern gleichzeitig auch Vorläufer aller späteren Taschenvarianten. Sie waren nämlich gerade so gross bemessen, dass unsere Vorfahren sie in kleinen sackartigen Behältern überall mit hinnehmen konnten.

Ihre erste Weiterentwicklung fanden die steinzeitlichen Faustkeile im so genannten Federmesser – einem Werkzeug, bei dem lediglich noch die Klinge aus Stein bestand, der Griff aber bereits aus Horn oder Holz gearbeitet war. Um die beiden Einzelteile miteinander zu verbinden, wurde die Nahtstelle mit Schnüren umwickelt oder mit Birkenpech verklebt. Ein Vorteil des so gewonnenen Federmessers war, dass sich abgenutzte Teile austauschen bzw. einem individuellen Verwendungszweck anpassen liessen.

Diese Präzisierung trieben die altägyptischen Heilkundler um etwa 4’000 v.Chr. auf die buchstäbliche Spitze: Die von ihnen verwendeten Metallklingen konnten nachgeschärft werden und kamen sogar bei chirurgischen Eingriffen zur Anwendung. Doch auch hier waren der Griff und die Schneide noch starr verbunden. Erst mehr als 3’000 Jahre später – nämlich um 600 v.Chr. – entwickelten die Kelten ein Messer mit schwenkbarer Klinge, das im Römischen Reich zahlreiche Nachahmungen fand.

Im Mittelalter gingen Messerfabrikanten dazu über, den beweglichen Teil des Werkzeugs mit einem so genannten Erl über den Griff hinaus zu verlängern. Diese Neuerung stabilisierte die ausgeklappte Klinge und erhöhte damit deren Sicherheit. Bei Nichtgebrauch konnte sie vollständig im Schaft versenkt werden. Französische und spanische Handwerker verfeinerten den Grundgedanken im 16. Jahrhundert durch einen Federmechanismus, der den scharfen Teil der Waffe noch zuverlässiger im Heft hielt.

Weitere 300 Jahre später war die Zugkraft der mechanischen Federn soweit präzisiert worden, dass sie die Klingen damit ausgestatteter Messer auf Knopfdruck auswerfen konnten. Die aus dieser Eigenschaft resultierende Bezeichnung „Springmesser“ datiert auf etwa 1850. Um diese Zeit tauchte der Begriff erstmals im Warenkatalog eines deutschen Fabrikanten auf. Dem in Solingen ansässigen Unternehmen gelang es, die Herstellung durch maschinelle Fertigungsprozesse zu vereinfachen und das praktische Messer zum preiswerten Verkaufsschlager zu machen.

Doch damit nicht genug: Um sein Produkt möglichst vielfältig ein- bzw. absetzen zu können, stattete der findige Unternehmer es mit zahlreichen Zusatzfunktionen aus. Durch die Integration eines Sägeblatts, einer Ahle und mehrerer Waidklingen sowie einer Halterung für Munition diente das Solinger Fabrikat bald als beliebte Jagdausrüstung. Als solche überzeugte es auch das Schweizer Militär, das im Jahre 1891 sage und schreibe 15.000 Exemplare des multifunktionalen Werkzeugs anforderte.

Warum die Messer ausgerechnet im Zuge dieser Bestellung Korkenzieher und Kapselheber erhielten, ist nicht überliefert; gibt aber einen möglichen Anhaltspunkt dafür, warum ihr Öffnungsmechanismus rund sechs Jahre später mit einer patentierten Sicherheitssperre versehen wurde: Seit 1897 verhindert ein zusätzlicher Riegel das versehentliche Aus- oder Einklappen der Klinge.

Auch die äussere Gestaltung des nun schon berühmten Messers unterlag ständigen Weiterentwicklungen und Veränderungen. Während die ersten Varianten noch aus Hirschhorn gearbeitet waren und die Lieferung an die Schweizer Soldaten Werkzeug mit Eichenholz-Griffen enthielt, bestanden spätere Messer zunehmend aus Edelmaterialien wie Elfenbein oder Tropenholz. Diese wurden – wie auch das Ressort und die Klingen – häufig mit aufwändigen Details geschmückt, so dass sich die praktischen Geräte bald zu begehrten Sammlerobjekten entwickelten.


Im Schweizer Raum hat das Messer seinen ursprünglichen praktischen Nutzen beibehalten. (Bild: Fabio Alcini / shutterstock.com)


Im Schweizer Raum hat das Messer seinen ursprünglichen praktischen Nutzen beibehalten. Nachdem es sich beim Front- und Manövereinsatz bewährt hatte, wurden die Machart und der Sicherheitsmechanismus erfolgreich kopiert und abgewandelt. Heute bilden die Begriffe „Schweiz“ und „Taschenmesser“ eine so untrennbare Einheit, dass kaum jemand auf die Idee käme, den Ursprung des berühmten Werkzeugs jenseits der Grenzen zu suchen.

Wer sich angesichts dieser Enthüllung enttäuscht zeigt, sollte jetzt ganz stark sein, denn mit dieser bemerkenswerten Geschichte steht das „typische“ Schweizer Produkt nicht allein. Das Schicksal, seinen eigentlichen Ruhm ausserhalb des Landes verwurzelt zu finden, teilt es sich mit einem weiteren Exportschlager: Auch Johanna Spyri – die geistige Mutter des berühmten Bergkindes Heidi – wurde in ihrer Heimat erst bekannt, nachdem sie durch die Veröffentlichung von Geschichten bereits in Deutschland Erfolge feiern konnte…

 

Oberstes Bild: © Volodymyr Krasyuk – shutterstock.com

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Mehr zu Christiane Dietering

Christiane Dietering hat eine handwerkliche, zwei kaufmännische und eine Autoren-Ausbildung absolviert. Sie arbeitet als freie Texterin, Rezensentin und Journalistin in den Themenbereichen Kunst und Kultur. Ihre Hauptauftraggeber sind Veranstalter von Musikaufführungen, Lesebühnen und Erotik-Events.

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