Ein Jahr nach dem Masseneinwanderungs-Votum: Roadmap nicht in Sicht

Am 9. Februar 2014 haben die Schweizer über die Initiative zur Masseneinwanderung abgestimmt – mit dem bekannten Ergebnis, dass Zuwanderung im bisherigen Ausmass für die Eidgenossenschaft nicht tragbar ist. Eine Roadmap für die Umsetzung der Initiative ist auch ein Jahr später noch nicht in Sicht.

Seit der Freigabe des Franken-Wechselkurses ist die Debatte um die Zuwanderungsbegrenzung in der öffentlichen Wahrnehmung weit zurückgetreten, zumal deren Folgen derzeit nicht akut sind. Die Kombination aus starkem Franken und den erwarteten Zuwanderungsbeschränkungen könnte jedoch bald zu einer Dynamik führen, welche die Schweizer Wirtschaft spürbar unter Druck setzt.

Die Attraktivität der Schweiz für internationale Unternehmen sinkt

Absehbar ist der negative Einfluss des Franken-Hochs auf die Schweizer Konjunktur, auch eine temporäre Rezession schliessen Wirtschaftsexperten nicht mehr aus. Fatal ist, dass dies einen Trend verstärken könnte, der bereits seit der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative manifest ist: Die Attraktivität der Schweiz als Standort für internationale Unternehmen sowie als Zuwanderungsziel für hochqualifizierte Arbeitskräfte hat im vergangenen Jahr abgenommen. Seit Februar 2014 zeigen die Ansiedlungen ausländischer Firmen eine rückläufige Tendenz, auch verschiedene bereits ansässige Unternehmen erwägen Alternativen zu einer Schweizer Dependance.


Absehbar ist der negative Einfluss des Franken-Hochs auf die Schweizer Konjunktur. (Bild: Lisa S. / Shutterstock.com)


Gehen der Schweiz die Arbeitskräfte aus?

Um den zu erwartenden Arbeitskräftemangel zu begrenzen, legen Politiker und Wirtschaftsverbände den Unternehmen nahe, bisher ungenutzte inländische Arbeitskräfte-Potenziale zu erschliessen. Neben Frauen, Jugendlichen, ausländischen Arbeitnehmern und Menschen mit Behinderung stehen hier vor allem ältere Fachkräfte im Fokus, die über das Erreichen der Pensionsgrenze hinaus an ihren Arbeitsplätzen bleiben sollen. Laut Angaben des Arbeitgeberverbandes steht allerdings bereits heute ein Drittel der Altersgruppe zwischen 64 und 69 Jahren noch im Arbeitsleben – ob sich der grosse Rest für eine Verlängerung seiner Lebensarbeitszeit entscheidet, darf als fraglich gelten.

Ältere Arbeitnehmer – arbeitswillig, jedoch zu teuer?

Eine Studie des liberalen Think-Tanks Avenir Suisse gibt zwar an, dass sich rund 60 Prozent der Altersgruppe 60+ vorstellen könnten, länger zu arbeiten – jedoch nur, wenn auch die Konditionen dafür stimmen. Flexible Arbeitszeitmodelle und wunschgemässe Arbeitsbereiche für Ältere sind in den Firmen in der Regel kein Problem, anders sieht es jedoch bei den Gehältern aus. Inklusive Sozialbeiträgen und Urlaubsansprüchen liegen die Gehälter älterer Arbeitnehmer um durchschnittlich zehn Prozent höher als in anderen Arbeitnehmergruppen. Aus Sicht der Arbeitgeber resultiert daraus eine Lohnspirale, die bereits jetzt zur Verdrängung Älterer aus den Unternehmen führt.

Die Anzahl ausländischer Arbeitskräfte ist 2014 nochmals gewachsen

Absehbar ist, dass das inländische Arbeitskräftereservoir geringer ist als der Bedarf der Wirtschaft. Solange sie dafür noch Spielraum haben, rekrutieren die Firmen ihre Fachkräfte weiterhin im Ausland. Das Bundesamt für Statistik weist für 2014 aus, dass die Anzahl der erwerbstätigen Schweizer um 0,7 Prozent auf 3,4 Millionen zugenommen hat. Die Zahl der ausländischen Arbeitskräfte ist dagegen um 3,9 Prozent auf 1,5 Millionen angewachsen. Gefragt sind vor allem ausländische Arbeitnehmer mit längerfristigen Aufenthaltstiteln sowie Grenzgänger – der Beschäftigungszuwachs in diesen beiden Gruppen belief sich auf sechs respektive vier Prozent.

Die Zuwanderung folgt den konjunkturellen Zyklen

Zu erwarten ist, dass die Zuwanderung in die Schweiz in einer Rezession automatisch abnimmt. Historische Daten zeigen, dass die Migrationsbewegungen eng mit der wirtschaftlichen Entwicklung der Schweiz zusammenhängen und den konjunkturellen Zyklen folgen. In den Jahren 2009 und 2010 – also auf dem Höhepunkt der letzten Wirtschaftskrise – hatte sich die Zuwanderung im Vergleich zu 2008 um 25 Prozent vermindert. Im Zuge der wirtschaftlichen Erholung stieg sie ab 2011 dann wieder kontinuierlich an.

Trotz des Franken-Schocks bleibt die Zuwanderungsfrage relevant

Einige Wirtschaftswissenschaftler legten jetzt erste Prognosen dazu vor, was der starke Franken für die Immigration bedeuten könnte. Der frühere Nationalbank-Ökonom Peter Stalder rechnet bei einer über zwei Jahre anhaltenden Parität zwischen Franken und Euro damit, dass sich die Nettoeinwanderung um rund 30000 Personen reduzieren könnte. Welchen Realitätswert solche Schätzungen haben, wird sich allerdings erst in der Zukunft zeigen. Die Wechselkursentwicklung des Franken zum Euro und auch zum US-Dollar ist bisher nicht absehbar. Die bisher gültigen Prognosen gehen davon aus, dass sich das Wachstum der Schweizer Wirtschaft in diesem Jahr zwischen – 0,5 und knapp einem Prozent bewegen wird, was auch die Unsicherheit der Ökonomen über die zu erwartende wirtschaftliche Entwicklung reflektiert. Sicher ist, dass die Zuwanderungsfrage trotz des Franken-Schocks auch künftig relevant bleibt.

Vom Umgang mit Gesetzeslücken

Die Politik zeigt sich im Hinblick auf die Regelung der Zuwanderung bisher unentschlossen. Absehbar ist allenfalls, dass die Schweiz innerhalb der verfassungsrechtlich vorgeschriebenen Drei-Jahres-Frist – also bis zum 9. Februar 2017 – keine finale Lösung finden wird. Besonders spannend ist in diesem Kontext, dass die Kündigung des Freizügigkeitsabkommens mit der EU aufgrund der Grösse des Vertragswerks aus Sicht von Verfassungsrechtlern nicht ohne parlamentarische Mitwirkung gekündigt werden kann. In ihrer Abstimmungsvorlage hatte die SVP-Initiative diesen Punkt bewusst ausgespart. Eine lose Gruppe von Kritikern der Initiative aus Politik und Wirtschaft argumentiert jetzt, dass – wenn das Parlament einer Kündigung des Abkommens zustimmen müsse – es auch beschliessen könne, diese Kündigung vorerst auszuschliessen. Ihr „Vorschlag zum Umgang mit einer Gesetzeslücke“ zielt nicht nur darauf, Zeit für eine wirtschaftskompatible Umsetzung der Initiative zu gewinnen, sondern für die Verhandlungen mit der EU im Vergleich zu den Vorgaben der Masseneinwanderungsinitiative eine „intelligentere Lösung“ zu finden. Im Übrigen hatte die SVP im sogenannten Abstimmungsbüchlein zur Initiative ausdrücklich deklariert, dass es ihr nicht um eine Kündigung der bilateralen EU-Verträge ging.



Die Option einer Fristverlängerung impliziert Lösungsmöglichkeiten

Der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse hat laut einem Bericht der NZZ Kenntnis von einem Vorschlag für einen referendumsfähigen Beschluss des Bundes, der jedoch noch nicht spruchreif ist. Verbandspräsident Heinz Karrer stellte in diesem Kontext klar, dass es dabei darum gehe, das Votum der Schweizer Bürger zu respektieren, jedoch eine Lösung mit der EU zu finden. Eine Fristverlängerung für die Umsetzung der Initiative impliziere, dass Politik und Wirtschaft eine solche Einigung – etwa durch eine Erweiterung der Schutzklausel im EU-Freizügigkeitsabkommen – für möglich halten. Der St. Gallener Rechtsprofessor Bernhard Ehrenzeller betrachtet dagegen eine Verfassungsänderung als die einzige saubere Lösung des Konflikts. Beispielsweise könnte in den Artikel 121a der Bundesverfassung ein Zusatz aufgenommen werden, der die Umsetzung der Initiative unter den Vorbehalt von bestehenden völkerrechtlichen Verträgen stellt.

Fazit: Das letzte Wort zur Immigration ist noch lange nicht gesprochen

Das letzte Wort zur Immigration in die Schweiz ist also noch lange nicht gesprochen. Ebenso offen ist, ob die Lösung durch eine Verfassungsänderung oder eine politische Entscheidung – den Parlamentsbeschluss über die Fristverlängerung und entsprechende Verhandlungen mit der EU – gefunden wird. Klar ist dagegen, dass in weiten Teilen der „politischen Schweiz“ und in der Wirtschaft Konsens darüber besteht, dass der Wirtschaftsstandort Schweiz durch Zuwanderungsbegrenzungen nicht negativ beeinflusst werden darf. Eine Frage ist natürlich auch, ob die Schweizer Bürger inhaltliche Modifikationen der Initiative akzeptieren.

 

Oberstes Bild: Das letzte Wort zur Immigration in die Schweiz ist noch lange nicht gesprochen. (© Stephen Finn / Shutterstock.com)

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