Soziale Reflexe: Neuroleadership als Führungs-Tool
VON Janine El-Saghir Allgemein Organisation
Aktuelle neurowissenschaftliche Studien nähern sich der Frage, wie gute Führung funktioniert, neuerdings noch von einer anderen Seite. Menschliche Interaktionen ziehen demnach immer auch „soziale Reflexe“ nach sich. Sogenannte Neuroleadership-Modelle knüpfen an diese These an.
Belohnung und Bedrohung als grundlegende Verhaltensmuster
Unsere grössten Triebfedern im Alltag sind aus Sicht der Neurowissenschaftler nicht rationale Erwägungen oder Emotionen, sondern physische Bedürfnisse wie Durst, Hunger oder Müdigkeit. Einige Forscher sind der Ansicht, dass ähnlich starke Grundbedürfnisse auch im menschlichen Zusammenleben wirken. Auch auf soziale Interaktionen reagieren Menschen mit Reflexen – und zwar in Form zweier grundsätzlicher Verhaltensmuster. Bewusst und vor allem unbewusst wird jede Interaktion entweder als Belohnung oder als Bedrohung wahrgenommen. Belohnungsszenarien möchten Menschen in der Regel maximieren, auf Bedrohungen reagieren sie mit Vermeidung oder Fluchtreflexen.
„Soziale Reflexe“ wirken sich vor allem in Change-Prozessen aus
Diese Konstellationen wirken sich auch im Arbeitsleben aus. Ein Beispiel, das wir alle kennen: Wenn der Vorgesetzte einen Termin für ein Feedback-Gespräch vereinbart, empfinden viele Mitarbeiter körperliche Reaktionen, als würden sie im Dunkeln vor einem unbekannten Geräusch erschrecken – im Klartext also Angst. Vor allem in Change-Prozessen ist das Wissen um solche negativen sozialen Reflexe wichtig. Führungskräfte, die in ihrem Unternehmen erfolgreich Veränderungen implementieren wollen, sollten alle Faktoren minimieren, die bei ihren Mitarbeitern zu Bedrohungsgefühlen führen. Anderenfalls riskieren sie, dass die Mitarbeiter zumindest im übertragenen Sinne die Flucht ergreifen und sich gegen Veränderungsprozesse aktiv oder passiv sperren.
Neuroleadership als neues Management-Konzept?
Der Begriff „Neuroleadership“ wurde vom australischen Neurowissenschaftler und Unternehmensberater David Rock geprägt. Die noch sehr junge Disziplin grenzt sich von bisher omnipräsenten behavioristischen Managementkonzepten ab und fokussiert sich stattdessen auf das Zusammenspiel äusserer Prozesse sowie neurologischer Faktoren. Rock und sein Team haben auf dieser Basis ihr „Scarf“-Modell entwickelt, bei dem es massgeblich um Motivation und Demotivation – respektive Belohnungs- und Bedrohungsszenarien – in Change-Prozessen geht. Das Kürzel „Scarf“ (englisch: Tuch oder Schal) steht für
- S: Status
- C: Certainty – Handlungssicherheit und Transparenz
- A: Autonomie
- R: Relatedness – soziales Eingebundensein
- F: Fairness.
Bedrohungen durch Statusverlust oder fehlende Fairness
Die Annahme im Hintergrund besteht darin, dass Statusbedrohungen oder unfaire Behandlung im Gehirn zu den gleichen Reaktionen wie physische Bedrohungen führen. Beispielsweise fühlen sich nach unfair abgelaufenen Umstrukturierungen auch die im Unternehmen verbliebenen Mitarbeiter nicht mehr sicher. Gleichzeitig wünschen sich Mitarbeiter Autonomie, positive Kommunikation, sozialen Austausch sowie Beteiligung an Entscheidungsfindungs- und Veränderungsprozessen. Effiziente Führung bedeutet also, die Wahrnehmung von Belohnungen zu maximieren und Bedrohungsszenarien zu minimieren oder auszuschalten.
Ob derartige Modelle künftig zum Nonplusultra der Managementwissenschaften werden, bleibt trotzdem abzuwarten. Auf den ersten Blick machen sie Führung durch die Annahme reziproker Reaktionen scheinbar simpler. Eine andere Frage ist, ob auf dieser Basis so etwas wie Augenhöhe zwischen Management und Mitarbeitern möglich ist.
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