Wer sind in der Weltwirtschaft die Gewinner und Verlierer?

Der glänzendste Stern am Ökonomen-Himmel war in den vergangenen Monaten der französische Volkswirtschaftler Thomas Piketty. Sein Werk „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ fokussiert sich auf die Einkommensschere zwischen Arm und Reich, die zu den grundlegenden Merkmalen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung gehöre und sich auch heute immer weiter öffne. Einmal abgesehen von der inzwischen manifesten und zum Teil auch ideologisch motivierten Kritik an Pikettys Werk – innerhalb der Wirtschaftswissenschaften sind auch andere Betrachtungsweisen produktiv und möglich.

Gerhard Schwarz, der frühere Chef der Wirtschaftsredaktion der „Neuen Zürcher Zeitung“ und heutige Direktor des liberalen Thinktanks Avenir Suisse, schreibt in seinem NZZ-Kommentar zur „Wirtschaftspolitischen Grafik“ für den Juni 2014, dass ökonomische Daten immer eine bewusste und in manchen Fällen sogar unbewusste Auswahl darstellten. Sie fokussierten sich auf einen bestimmten Aspekt – geografisch, zeitlich und auch sachlich. Damit glichen sie „Scheinwerferkegeln in der Nacht“ und erzeugten eine völlig andere Perspektive als ein freier Blick bei Tageslicht. Sein Artikel zielt gegenüber Piketty auf einen Perspektivenwechsel ab.

Milanovic und Lakner: Globale Einkommensanalyse für die letzten zwei Jahrzehnte

Als Quelle stützt sich Schwarz auf eine Analyse der Wirtschaftswissenschaftler Branko Milanovic und Christoph Lakner, die den Zeitraum zwischen dem Fall der Berliner Mauer und der grossen Krise – 1988 bis 2008 – einschliesst. Veröffentlicht wurde sie im Rahmen eines Forschungsberichts der Weltbank. Anders als Piketty beziehen sich Milanovic und Lakner nicht auf den grossen historischen Wurf, sondern konzentrieren sich auf die letzten zwei Jahrzehnte – eine Rolle spielt hier auch die Datenlage, die aus ihrer Sicht nur für diesen Zeitraum zuverlässig ist. Zudem beziehen sie inzwischen besonders dynamische Entwicklungen der Einkommen in vielen Schwellen- und Entwicklungsländern ein.

Schwarz konstatiert in diesem Kontext, dass es für ein globales Bild deutlich relevanter sei, wenn innerhalb des weltweiten Mittelstands die Einkommen „einiger Millionen Chinesen“ steigen, als wenn dies für „einige Tausend Schweizer“ zutreffe, die hierzulande zudem eher als arm bewertet werden.

Milliarden Menschen gelingt der Sprung aus der Armutsfalle

Die Basis der Studie bilden 565 Haushaltserhebungen sowie Tausende von Einzelbefragungen in 120 Ländern. Ihr Datenmaterial bildet 90 % der Weltbevölkerung und 95 % der globalen Wertschöpfung (Bruttoinlandsprodukt – BIP) auf repräsentative Weise ab. Die Ergebnisse sind spannend. Ein augenfälliges Beispiel: Das 80. Perzentil – also jenes Prozent, das 1988 mehr verdiente als 79 % der Weltbevölkerung, jedoch weniger als die oberen 19 %, die noch reicher waren, konnte sein Einkommen im Untersuchungszeitraum kaufkraftbereinigt und real kaum noch steigern. Zudem sind zwischen 1988 und 2008 alle Einkommen, wenn auch in unterschiedlichem Ausmass, angestiegen.

Weltweit gelang hierdurch Milliarden Menschen der Sprung aus der Armutsfalle. Der Gini-Koeffizient, ein Wert zur Messung der materiellen Ungleichheit, ist in diesem Zeitraum von 0,72 auf 0,70 gesunken, was eine – allerdings sehr leichte – Angleichung der Verteilung indiziert.


Auf der Gewinnerseite: die Superreichen und der globale Mittelstand. (Bild: Maslowski Marcin / Shutterstock.com)
Auf der Gewinnerseite: die Superreichen und der globale Mittelstand. (Bild: Maslowski Marcin / Shutterstock.com)


Auf der Gewinnerseite: die Superreichen und der globale Mittelstand

Die Einkommen einzelner Menschen können vor diesem Hintergrund natürlich trotzdem gesunken sein, in den verschiedenen Einkommensgruppen haben die Zuwächse die Einkommensverluste jedoch mehr als kompensiert. Relative Gewinner und Verlierer sind trotzdem auszumachen. Letztere finden sich zwischen dem 75. und 95. Perzentil, also im oberen Mittelstand und bei den Reichen unterhalb der kleinen Schicht der „Superreichen“, sowie bei jenen, die weltweit die niedrigsten Einkommen beziehen. Zu den Gewinnern gehören das Gros der globalen Mittelschicht, dessen Einkommen um bis zu 75 % gewachsen ist, sowie das eine Prozent der absoluten Top-Verdiener, deren Einkommen fast ebenso stark gewachsen ist wie das der Gruppe zwischen dem 40. und 65. Perzentil.

Stagnation des Mittelstands im reichen Norden

Die Studie zeigt, dass die Gewinner im globalen Mittelstand hauptsächlich in Asien leben, die Spitzenverdiener kommen vor allem aus Nordamerika sowie Europa. Die Verlierer sind dagegen vor allem in Schwarzafrika zu Hause. Die Einkommensstagnation rund um das 80. Perzentil betrifft vor allem den Mittelstand der westlichen Industrieländer inklusive des unteren Mittelstands – mit einem Fokus auf Europa. Trotz aller Ungleichheit bei der Einkommensverteilung in diesen Ländern gilt nach wie vor, dass der westliche Mittelstand je nach Land und Region einen Platz im oberen Fünftel oder Viertel einnimmt.

Als – stark vereinfachende – Zusammenfassung schreibt Schwarz, dass die mittleren Einkommensklassen in den „aufstrebenden Ländern des Südens“ demografisch und einkommensmässig an Gewicht gewännen. Der Mittelstand in den Industrieländern stagniere dagegen in beiden Dimensionen. Sofern die Annahme gültig ist, dass eine prosperierende Mittelklasse Gesellschaften stabilisiert und ihre demokratische Entwicklung fördert, ergeben sich daraus für die „Dritte Welt“ recht gute Perspektiven, jedoch ein weniger erfreulicher Trend für die „Erste Welt“.

Soziale und ökonomische Widersprüche – essenzielle Themen des 21. Jahrhunderts

Pikettys These, dass die Reichen im Kapitalismus immer reicher und die Armen immer ärmer würden, konterkariert die Studie von Milanovic und Lakner im Übrigen trotzdem nur bedingt. Die Stagnation des europäischen und nordamerikanischen Mittelstands ist ein Indiz dafür, dass sich die Einkommensschere in den betreffenden Gesellschaften immer stärker öffnet. Gleiches trifft auch – trotz der Teilhabe von immer mehr Menschen an einem relativen Wohlstand – global zu. Ein ganzer Kontinent – Schwarzafrika – und andere Regionen sind wirtschaftlich im globalen Massstab seit Langem abgehängt und laufen Gefahr, dass ihre ökonomischen ebenso wie ihre politischen Systeme in absehbarer Zeit zerbrechen. Auch der Demokratieaspekt eines prosperierenden Mittelstands wäre – als prominentes Beispiel: China oder die populistisch-autoritären Trends in Europa – zu hinterfragen. Gültig ist: Sowohl Piketty als auch die Milanovic-Lakner-Studie stellen Themen in den Raum, die für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung im 21. Jahrhundert essenziell sind.

 

Oberstes Bild: © ramcreations – Shutterstock.com

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