"Beschäftigungswunder" in der Schweiz? – Teil 2

Der Schweizer Arbeitsmarkt gilt im internationalen Vergleich als ein Sonderfall. Die hohe Lohnquote der Schweiz ist weltweit einzigartig. Derzeit entfallen 65 % des Schweizer Gesamtproduktes auf Löhne und Gehälter. Eine Studie der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich (KOF) weist zudem nach, dass die Lohnquote in der Schweiz in den vergangenen 30 Jahren im Gegensatz zu allen anderen OECD-Ländern kontinuierlich angestiegen ist.

Die treibenden Kräfte hinter diesem Trend sind unter anderem der spezifische Schweizer Branchen-Mix, das hohe Qualifikationsniveau der Arbeitnehmer und ein sehr dynamischer Arbeitsmarkt, der auf permanenten Nachschub an qualifizierten Arbeitskräften angewiesen ist. Hinzu kommt, dass die Automatisierung und Digitalisierung der Schweizer Wirtschaft seit den 1980er-Jahren in relativ langsamem Tempo vorangeschritten ist und viele Schweizer Unternehmen ihren Fokus auf Beschäftigung nie aufgegeben haben.


Dies ist ein Bericht in zwei Teilen:

„Beschäftigungswunder“ in der Schweiz? – Teil 1
„Beschäftigungswunder“ in der Schweiz? – Teil 2


Auf die Mehrheit der Bürger dürfte es beruhigend wirken, dass der grösste Teil des Schweizer Wohlstands bisher auf menschlicher Arbeit fusst. Zudem hat eine hohe Lohnquote auch eine gleichmässigere Verteilung des Einkommens zur Folge, als es bei Wertschöpfungsprozessen aus Kapital der Fall ist. Allerdings stellt sich hier auch die Frage, ob der Sonderweg der Schweiz von Effizienz getragen ist und ob die Eidgenossen ihren im internationalen Massstab sehr hohen Status auch in Zukunft halten können.

Exzellente Wettbewerbsfähigkeit, hohe Innovationskraft

Auf den ersten Blick sind die Wirtschaftsdaten der Schweiz mehr als exzellent. Eine Studie des IMD Lausanne kam erst kürzlich zu dem Schluss, dass die Schweiz das wettbewerbsfähigste Land Europas sei und weltweit nur von den USA übertroffen werde. Die Industrieproduktion pro Kopf ist in der Schweiz sogar höher als in jedem anderen Land. Auch im Hinblick auf Erfindungen und Patente gehört die Schweiz zu den globalen Spitzenreitern. Im Innovation Scoreboard der Europäischen Union belegt sie bei der Gesamtwertung der Kriterien für Innnovation seit einiger Zeit den ersten Rang.

Sinkende Wirtschaftsleistung pro Kopf

Anders gestaltet sich das Bild, wenn das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt, also die Wirtschaftsleistung pro Person, zur Beurteilung der ökonomischen Leistungskraft der Schweiz herangezogen wird. Zwischen 2001 und 2007 ist diese Kennzahl pro Jahr nur um jeweils 1,3 % gewachsen und erinnert damit an die wirtschaftliche Stagnation der 1990er-Jahre. Im gesamten OECD-Raum ist das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt im selben Zeitraum um 1,6 % gestiegen. Deutschland brachte es seinerzeit – unter anderem bedingt durch die Währungsumstellung auf den Euro – zwar ebenfalls nur auf ein Wachstum von 1,4 Prozent, konnte nach dem Ende der Finanz- und Wirtschaftskrise im Vergleich zur Schweiz jedoch mit einer deutlich dynamischeren Entwicklung punkten.

Steigende Arbeitskosten – ohne signifikant steigende Arbeitsproduktivität

Ebenso problematisch ist die Schweizer Wirtschaftsleistung pro Arbeitsstunde. Zwischen 2001 und 2007 ist die Arbeitsproduktivität pro Stunde hierzulande nur um 1,1 % gewachsen. In Deutschland waren es 1,6 %, in der OECD insgesamt sogar 1,9. Zwar wirken diese Unterschiede oberflächlich betrachtet nicht dramatisch, bedrohen jedoch auf lange Sicht die wirtschaftliche Substanz – zumal die Lohnstückkosten in der Schweiz in den Jahren 2000 bis 2010 um knapp 2 % gestiegen sind. Anders formuliert: Der Anstieg der Arbeitskosten wird nicht durch eine höhere Arbeitsproduktivität getragen.


Beschäftigungswachstum. (Bild: Maxim Maksutov / Shutterstock.com)
Beschäftigungswachstum. (Bild: Maxim Maksutov / Shutterstock.com)


Beschäftigungswachstum vor allem in marktfernen Bereichen?

Auf Unternehmensebene, zumal bei KMU mit knappen Margen, zeigt sich das Problem recht schnell: Teure, arbeitsintensive Produktionsprozesse erweisen sich nach kurzer Zeit als unrentabel. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, sind die Unternehmen zur Erhöhung ihrer Produktivität – beispielsweise durch neue Technologien, einen Standortwechsel oder das Erschliessen neuer Geschäftsfelder – gezwungen. Im gesamtwirtschaftlichen Rahmen lassen sich die Folgen mangelnder Produktivität dagegen über einen längeren Zeitraum verschleiern oder ignorieren.

Beat Gygi warnt in seiner Analyse für die „NZZ“ unter anderem vor „nutzloser Geschäftigkeit“. Beispielsweise sei ein guter Teil des Beschäftigungswachstums in der Schweiz auf die Expansion der staatlichen Verwaltung und des Gesundheitswesens zurückzuführen. Es betreffe also vor allem Bereiche, in denen kaum Marktkräfte wirksam seien, die unproduktive Fehlentwicklungen frühzeitig korrigieren könnten.

Die Arbeitsproduktivität der Schweiz entwickelt sich nicht linear

In einer früheren Studie hat die KOF herausgestellt, dass sich die Arbeitsproduktivität in der Schweiz – wie in allen anderen Ländern auch – nicht linear entwickelt hat. Eine Zäsur bilden hier vor allem die Krisenjahre, wobei die globale Krise die Schweiz im internationalen Vergleich nicht wirklich hart getroffen hat. Gleichzeitig kam hier die zeitweise deutlich sinkende Nachfrage nach hoch qualifiziertem Personal zum Tragen. Die Studie bestätigt übrigens Gygis These, dass sich das „Schweizer Beschäftigungswunder“ zumindest temporär immer wieder auf einen Beschäftigungszuwachs im Dienstleistungssektor – also in Bereichen mit niedriger Produktivität – fokussiere. Beispielsweise war 2012 die Schweizer Arbeitsproduktivität aus diesem Grund um 0,7 % gesunken.

Der Sonderweg der Schweiz – möglicherweise ein Erfolgsgarant

Eine rasante Produktivitätsentwicklung erwarten die Forscher aufgrund der Schweizer Branchen- und Arbeitsmarktstruktur übrigens auch in absehbarer Zukunft nicht. Grund zur Sorge ergibt sich aus ihrer Perspektive – trotz aller von anderer Seite geäusserten Bedenken – jedoch nicht zwangsläufig. Die Schweizer Wirtschaft hat bisher recht eindrucksvoll bewiesen, dass sie sich in der globalisierten Welt auf einer Spitzenposition behaupten kann. Möglicherweise hat gerade der – unter reinen Effizienzkriterien ambivalente – Schweizer Sonderweg dazu beigetragen.

 

Oberstes Bild: © Hasloo Group Production Studio – Shutterstock.com

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