Bedeutet der Mindestlohn das Ende der Sozialpartnerschaft?

Die Debatte um den Mindestlohn reisst nicht ab. Gegner und Befürworter fahren weiterhin ihre Argumente wie schwere Geschütze auf, und sie werden es bis zum Tag der Abstimmung im Mai tun – wenn nicht sogar darüber hinaus. Die einen fürchten den Zusammenbruch der Schweizer Wirtschaft, die anderen fordern eine gerechte Entlohnung für die arbeitende Bevölkerung und sehen im Mindestlohn den richtigen Ansatz für einen erforderlichen Strukturwandel in schwächelnden Bereichen. Viele Gegner auf der Arbeitgeberseite pochen vor allem darauf, dass die „bewährte Sozialpartnerschaft“ durch den Mindestlohn in Höhe von 22 Franken untergraben bzw. zu Grunde gerichtet würde.

Dem widerspricht Daniel Oesch, seines Zeichens Professor am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Lausanne, in einem ausführlichen Aufsatz energisch. Oder, um genau zu sein: Er widerspricht nicht, er erklärt die viel beschworene, starke Sozialpartnerschaft zu einem Mythos, der mit der Realität im Lande nichts zu tun habe, sondern allenfalls die halbe Wirklichkeit abbilde.

Oesch räumt ein, dass Gesamtarbeitsverträge (GAV) und Sozialpartnerschaft in einigen Branchen der Wirtschaft durchaus eine grosse Rolle spielen, beispielsweise im Baugewerbe, bei Post und Eisenbahnen, in der Uhrenindustrie. In anderen Sektoren haben sie dagegen so gut wie keine Bedeutung: in der Landwirtschaft, im Schuh- und Modehandel, im Schwerverkehr oder in Call Centers. Gerade einmal 50 Prozent aller Lohnabhängigen sind einem GAV unterstellt. Bei Mindestlöhnen liegt die Schwelle noch tiefer, nämlich bei 40 Prozent. Das heisst, dass bei 60 Prozent dieser Arbeitsverhältnisse die Löhne ohne Arbeitnehmervertreter und ohne gemeinsame Verhandlungen festgelegt werden.

Mit diesem tiefen Abdeckungsgrad bei den GAVs liegt die Schweiz auf den hintersten Plätzen in den westlichen Industrienationen. In kleineren Volkswirtschaften wie Schweden, Dänemark, Österreich und die Niederlande arbeiten mehr als 80 Prozent unter den Bedingungen eines GAV – trotz eines wesentlich strengeren Arbeitsrechts in diesen Staaten etwa beim Kündigungsschutz, bei der Arbeitszeit oder der Mitbestimmung. Hinter der Schweiz rangieren bezüglich GAVs nur die angelsächsischen Länder, ganz extrem die USA. Dort dreschen die Arbeitgeber allerdings auch keine Phrasen über eine starke Sozialpartnerschaft, sondern rühmen sich sogar explizit als gewerkschaftsfreie Zonen. Andererseits gibt es in den Vereinigten Staaten, genauso wie in 21 von 28 EU-Mitgliedsländern, einen gesetzlichen Mindestlohn.

Oesch kommt zu dem Schluss, dass ein Zusammenhang zwischen schwachem bzw. liberalem Arbeitsrecht und einer folgerichtig starken Sozialpartnerschaft der Fantasie entspringt. Gerade Länder mit einem hohen Anteil an GAVs haben gleichzeitig strenge arbeitsrechtliche Regelungen sowie einen ausgeprägten Sozialstaat. Als typische Beispiele führt er wiederum Schweden und Dänemark an, als gegenläufig die USA und Kanada. Oesch führt diese Unterschiede auf historisch-politische Ursachen zurück. Nur in Staaten, in denen in der Vergangenheit links- bzw. sozialdemokratische Regierungen an der Macht waren, haben sich starke Sozialpartnerschaften und Gewerkschaften durchgesetzt und günstige Rahmenbedingungen für GAVs und kollektive Arbeitsbeziehungen geschaffen.

Auch wenn in der Schweiz die Arbeitgeber für GAVs und Sozialpartnerschaft plädieren und im Gesetz verankerte Regeln ablehnen – sie vergessen allzu gern, dass gerade die GAVs gegen ihren massiven Widerstand eingeführt wurden, nämlich in und nach den Streikwellen der Jahre 1918-1922 und 1945-1949. Man kann kaum behaupten, dass die Eidgenossenschaft schon immer ein Land des sozialen Friedens war. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde hier genauso oft gestreikt wie etwa in Deutschland und öfter als in Frankreich. Rruhe kehrte erst in der Nachkriegszeit ein – mit der Vereinbarung von GAVs und der einsetzenden Hochkonjunktur.

Oesch sieht diese Erkenntnis als zentral für das Verständnis der Arbeitsbeziehungen in der Schweizer Wirtschaft an. GAVs wurden nicht aus Gründen der Vernunft oder Effizienz eingeführt, sondern weil die erbitterten und langen Arbeitskämpfe dies erforderlich machten – gegen den Willen der Arbeitgeber. Daran hat sich nach Ansicht des Professors bis heute nichts geändert, weder auf Landesebene, noch in einzelnen Branchen.


Die Schweizer Arbeiterbewegung wurde bis in die Gegenwart mehr vom bürgerlich-konservativen Lager beherrscht als in anderen Ländern. (Bild: bogdanhoda / Shutterstock.com)


Die Schweizer Arbeiterbewegung wurde bis in die Gegenwart mehr vom bürgerlich-konservativen Lager beherrscht als in anderen Ländern. Gründe sind sowohl in sprachlichen und konfessionellen Konfliktlinien innerhalb der Arbeiterklasse des 19. Jahrhunderts zu suchen, als auch in der dezentralen Industrialisierung, wie sie sich im Land entwickelte. Darüber hinaus kam es nie zu einer Solidarisierung zwischen Arbeitern und Bauern, wie dies z.B. in Schweden der Fall war. Die Bauern bilden zusammen mit Industriellen seit Beginn des 20. Jahrhunderts einen festen nationalen und konservativen Block.

In Bezug auf die Diskussion um den Mindestlohn kommt Oesch zu dem Schluss, dass die Argumente für eine starke Sozialpartnerschaft abseits von gesetzlichen Regelungen und gegen den Mindestlohn nicht ehrlich sind. Einer Mehrheit aller Beschäftigten – vor allem in den oben angeführten Branchen – wird bei einer Ablehnung der Initiative weiterhin jeder Lohnschutz abgehen. Der gesetzliche Mindestlohn würde nach Oesch die Kräfteverhältnisse zu Gunsten der Arbeitnehmer verschieben und ihnen ermöglichen, bei GAV-Gesprächen auf Augenhöhe mit den Unternehmen zu verhandeln.
Oberstes Bild: © v.schlichting – Shutterstock.com

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hat Germanistik, Geschichte und Philosophie studiert und ist zusätzlich ausgebildeter Mediendesigner im Segment Druck. Er schreibt seit über 30 Jahren belletristische Texte und seit rund zwei Jahrzehnten für Auftraggeber aus den unterschiedlichsten Branchen.

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