Gesamtarbeitsvertrag und Sozialpartnerschaft in der Schweiz

Was hat es mit dem Gesamtarbeitsvertrag auf sich? Wie hat er sich historisch entwickelt und wie sieht er heute in der Schweiz aus? 

Der vorliegende Beitrag gibt dazu einen Überblick.

Historisches

Gesamtarbeitsverträge bilden das wichtigste Instrument der Sozialpartnerschaft zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Sie regeln die wichtigsten Anstellungs- und Arbeitsbedingungen für einen ganzen Betrieb, eine Branche, eine Region oder für das ganze Land. Bereits vor über 100 Jahren hat die Schweiz als erstes Land Europas den Gesamtarbeitsvertrag als eigenständige Vertragsform im Obligationenrecht von 1911 verankert.

Noch in den 1920er-Jahren bestand eine grosse Kluft zwischen Industriellen und Arbeiterschaft, aber auch zwischen sozialistischen und christlichen Gewerkschaften. Dieser Konflikt wurde damals im sogenannten „Klassenkampf“ mit harten Bandagen ausgetragen. In der Folge wurden in den 1930er-Jahren versöhnlichere Töne angeschlagen und im Jahre 1937 schlossen der Arbeitgeberverband der Maschinen- und Metallindustrie und die Gewerkschaften das sogenannte „Friedensabkommen“ ab:

Die Gewerkschaften wurden von der Arbeitgeberseite als vollwertige Verhandlungspartner anerkannt und verzichteten im Gegenzug auf Streiks. Im Friedensabkommen wurde auch ein Schiedsgerichtsverfahren vor einem durch die Sozialpartner selbst bestimmten Gericht eingeführt, was als klare Absage an staatliche Interventionen zu verstehen war. Das Friedensabkommen der Metallindustrie bildete in der Folge die Vorlage für ähnliche Verträge in anderen Branchen und damit auch die Grundlage für die Sozialpartnerschaft in der Schweiz.

Definition Gesamtarbeitsvertrag

Der Gesamtarbeitsvertrag (GAV) ist ein Vertrag zwischen Arbeitgebern oder Arbeitgeberverbänden und Arbeitnehmerverbänden zur Regelung der Arbeitsbedingungen und des Verhältnisses zwischen den GAV-Parteien. Er ist in den Artikeln 356 bis 358 des Obligationenrechtes geregelt.

Auf der Arbeitgeberseite kann ein Unternehmen oder können mehrere Arbeitgeber oder Arbeitgeberverbände, auf der Arbeitnehmerseite immer nur ein Arbeitnehmerverband (Gewerkschaft) oder mehrere Arbeitnehmerverbände stehen.

Der klassische Inhalt eines GAV beinhaltet Bestimmungen über den Abschluss, Inhalt und die Beendigung des Einzelarbeitsvertrages (normative Bestimmungen), Bestimmungen über die Rechte und Pflichten der vertragschliessenden Parteien unter sich (schuldrechtliche Bestimmungen) und Bestimmungen über Kontrolle und Durchsetzung des GAV.

Die normativen Bestimmungen eines GAV regeln normalerweise Gegenstände wie Lohn, Lohnfortzahlung bei Verhinderung wegen Krankheit, Mutterschaft und Militärdienst, Ferien, Arbeitszeitvorschriften sowie Erweiterung des Kündigungsschutzes und werden mit dessen Inkrafttreten Teil des Einzelarbeitsvertrages.

Sie haben direkte Geltung für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die selber Mitglied eines vertragsschliessenden Verbandes sind, wenn der Arbeitgeber ebenfalls am GAV beteiligt ist. Die beteiligten Arbeitgeber wenden den GAV in der Regel aber auch für nicht gewerkschaftlich organisierte Angestellte an.



Ein GAV wird meistens mit einer bestimmten Laufzeit vereinbart. Während der Laufzeit besteht beidseitig Friedenspflicht. Sofern die Vertragsparteien einverstanden sind, kann ein GAV allgemeinverbindlich erklärt werden mit der Wirkung, dass der Geltungsbereich auf alle Arbeitgeber und Arbeitnehmer (auch auf die nicht-organisierten) eines Wirtschaftszweiges oder eines Berufes ausgeweitet wird (sog. Branchen-GAV). Branchen-GAV sind in der Schweiz verbreitet, wobei aber auch vereinzelt branchenübergreifende GAV existieren.

Verbreitung und Bedeutung von Gesamtarbeitsverträgen in der Schweiz

Per 1. März 2012 waren insgesamt 1‘926‘100 Angestellte (von total 4‘776‘000 Angestellten) einem der 606 GAV in der Schweiz unterstellt. Davon waren 1‘600‘500 Arbeitsverhältnisse einem der 217 Verbands-GAV unterstellt, während 325‘500 Arbeitsverhältnisse einem Firmen-GAV unterstanden (Quelle: Erhebung der Gesamtarbeitsverträge in der Schweiz, 2012, bfs.admin.ch).

Die Zahlen zeigen auf, dass rund 60% der schweizerischen Arbeitgeber ihre Arbeitsverhältnisse nicht sozialpartnerschaftlich regeln, weil dies in zahlreichen Branchen und Berufen nicht notwendig und sowohl von Arbeitnehmer- wie auch Arbeitgeberseite nicht erwünscht ist.

Traditionell sind GAV in Branchen wie Metall, Bau, Gastro oder öffentliche Verwaltung verbreitet, während insbesondere in der Dienstleistungsindustrie weniger Bedürfnisse nach GAV-Regelungen bestehen. In den nicht sozialpartnerschaftlich organisierten Branchen und Berufen haben die Gewerkschaften naturgemäss auch kaum Mitglieder. Den Gewerkschaften fehlt es somit in rund 60% der Wirtschaft mangels eines repräsentativen Organisationsgrades an Legitimation, sich in die Arbeitsbeziehungen einzubringen.

Diese Tatsache muss besonders vor dem Hintergrund der in Politik und Medien geführten Diskussionen über GAV-Abschlüsse und deren Allgemeinverbindlicherklärung berücksichtigt werden, denn sie erklärt die mangelnde Legitimationsbasis der Gewerkschaften in weiten Teilen der schweizerischen Wirtschaft.

Branchenübergreifender GAV für den Dienstleistungsbereich in der Region Basel

Als einer der grossen Kollektivverträge der Schweiz kommt der branchenübergreifende GAV für den Dienstleistungsbereich in der Region Basel in über 460 Unternehmen in der Region Nordwestschweiz und anderen Teilen der Schweiz zur Anwendung. Dem Gesamtarbeitsvertrag sind rund 25’000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer unterstellt. Verschiedene Unternehmen wenden den Gesamtarbeitsvertrag auch auf Arbeitsverhältnisse ausserhalb der Region Nordwestschweiz (bspw. Zürich, Ostschweiz und Tessin) an, indem sie in der Beitrittserklärung auch ausserkantonale Betriebe dem GAV unterstellen.



Der Geltungsbereich des Gesamtarbeitsvertrages ist breit gefasst und erstreckt sich generell auf Angestellte im Dienstleistungsbereich. Darunter fallen z. B. kaufmännisch-technische Angestellte und solche in Handels-, IT-, Planungs- und Werbeunternehmen sowie das Verkaufspersonal. Die unterstellten Firmen bilden somit einen sehr heterogenen Bereich der Wirtschaft ab und stammen aus unterschiedlichsten Branchen. Unter der Federführung des Arbeitgeberverbandes Basel haben die Handelskammer beider Basel, die Wirtschaftskammer Baselland, die Angestelltenvereinigung Region Basel, der Kaufmännische Verband Basel und der Kaufmännische Verband Baselland den Gesamtarbeitsvertrag unterzeichnet.

 

Artikel von: artax Fide Consult AG / Mitglied von Morison International / artax.ch
Artikelbild: © Gajus – shutterstock.com

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Mehr zu Dr. iur. Alexander Frei

Dr. iur. Alexander Frei ist Advokat beim Arbeitgeberverband Basel, Bereiche Arbeitsrecht, Arbeitsmarkt und GAV-Politik.

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