Baumwolle: Motor der Globalisierung

Die wirtschaftliche Bedeutung der Baumwolle ist unumstritten. „King Cotton“ nannten die Konföderierten sie im US-amerikanischen Bürgerkrieg 1860/61. Die amerikanischen Südstaaten waren sich bewusst, in welchem Mass ihr Wohlstand auf der Baumwolle basierte. Weniger bekannt ist, dass auch Teile des Schweizer Bürgertums ihren Wohlstand ursprünglich dem „weissen Gold“ verdankten.

In seinem aktuellen Buch „King Cotton“ erzählt der deutsche Historiker und Harvard-Wissenschaftler am Beispiel der Baumwolle die Geschichte des Kapitalismus und der Anfänge der Globalisierung. Der Autor betont in der Einleitung zu seinem Werk ausdrücklich, dass es ihm nicht um eine Dämonisierung oder eine Fundamentalkritik am Kapitalismus geht – im Gegenteil habe die globale Ökonomie von Anfang an auch eine „revolutionierende“ und „befreiende“ Kraft besessen. Baumwolle war über Jahrhunderte eine treibende Kraft für die Entwicklung industrieller Zentren und schliesslich einer modernen Industrie. Die Geschichte der globalen Baumwollwirtschaft wurde bei aller Brutalität zu einer Voraussetzung des Wohlstands in den industrialisierten Ländern.

Die Wurzeln der Globalisierung gehen bis ins 15. Jahrhundert zurück

Die Entstehung von bürgerlichem Kapital ging in vielen Facetten vor sich – viele davon sind untrennbar mit dem Aufschwung der Baumwolle als Wirtschaftsgut verbunden. Die Grundlagen dafür schufen die Seefahrer des 15. und 16. Jahrhunderts. Aus der Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus (1492) und des Seeweges nach Indien durch Vasco da Gama (1497/89) resultierte in sehr kurzer Zeit ein System weltweiter Handelsbeziehungen, das durch Expansion und Effizienz geprägt war. Beckert liefert hierfür ein eindrucksvolles Beispiel: Europäer kauften mit in Indien produzierten Textilien Schwarzafrikaner für die Sklavenarbeit auf amerikanischen Plantagen, deren Agrarerzeugnisse europäische Konsumbedürfnisse erfüllten.

„Kriegskapitalismus“ als Booster der industriellen Revolution

Der weltweite Handel mit Waren – und sehr lange auch mit Menschen – setzte bereits in den frühen Tagen des westlichen Kapitalismus ein, der damit seine globale Struktur gefunden hatte. Das „weisse Gold“ trug massgeblich zur kolonialen Expansion des Westens und der Entstehung von globalen Handels- und Wirtschaftsbeziehungen bei, deren strukturelle Folgen noch heute wirken. In der Beschreibung des Historikers handelte es sich dabei um einen „Kriegskapitalismus“, der durch Versklavung, Enteignung und Ausbeutung geprägt war und damit die Grundlagen für die industrielle Revolution in Europa und Nordamerika geschaffen hat.


Baumwolle war über Jahrhunderte eine treibende Kraft für die Entwicklung industrieller Zentren. (Bild: Jim David / Shutterstock.com)


Koloniale Schizophrenie und radikaler Protektionismus

Auch die ideelle Teilung der Welt in Metropolen und abhängige Kolonien hat in diesen Konstellationen ihre Wurzeln. Spätestens seit der Grossen Französischen Revolution folgte daraus eine „Schizophrenie“, die strukturell und in den wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zwischen Industrieländern und peripheren Staaten bis heute fortwirkt. Gefördert wurde dieses Auseinanderdriften der „verschiedenen Welten“ auch durch den radikalen Protektionismus der europäischen Staaten. Ab 1726 stand in Grossbritannien auf den Import von verarbeiteter Baumwolle die Todesstrafe – die Industrialisierung Englands ging von den Textilfabriken aus.

Was die Schweiz mit dem „weissen Gold“ zu tun hat

Auf den ersten Blick ist die Schweiz von den mit der Baumwolle verbundenen globalen Konstellationen weit entfernt – die Eidgenossenschaft war niemals Kolonialmacht und in die Entwicklung der globalen Ökonomie auf den ersten Blick vor allem durch ihre Rolle als Finanzplatz eingebunden. Als Gegenthese spricht Beckert in diesem Zusammenhang von einer „inneren Kolonialisierung in Europa“, durch die auch die Schweiz in die Herausbildung des globalen Kapitalismus und die Geschichte des „weissen Goldes“ tief verwickelt war. Beispielsweise umgingen Baseler Kaufleute im 18. Jahrhundert die rechtlichen Beschränkungen für Zünfte, indem sie ihre Baumwollerzeugnisse in deutschen Textilmanufakturen fertigen liessen.

Auch in der globalen Baumwollwirtschaft spielten Schweizer eine Rolle – mit Erfolg, wie das Beispiel der Gebrüder Salomon und Johann Georg Volkart zeigt. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde ihre Winterthurer Handelsfirma unter anderem durch das Umgehen von Zwischenhändlern zu einem der wichtigsten Akteure im Baumwollgeschäft mit Indien. Im Jahr 1876 verbanden sich die Volkarts durch die Eheschliessung von Salomons Tochter Lilly und Theodor Reinhart mit einer französischen Baumwolldynastie. Auch auf die Entwicklung des Kulturlebens der Schweiz hatte das „weisse Gold“ durch das seinerzeit stark ausgeprägte Mäzenatentum einen starken Einfluss. Allein in Winterthur haben zwei Kunstmuseen und das Fotomuseum der Stadt ihre Wurzeln in den Kunstsammlungen sowie den fotografischen und cineastischen Aktivitäten von Mitgliedern der Familie Reinhart.

Das koloniale Engagement von Schweizer Firmen ist in den letzten Jahren auch für andere Wissenschaftler ein Trendthema geworden. Der Freiburger Geschichtsprofessor Christoph Dejung beschäftigt sich beispielsweise mit der Rolle Schweizer Geschäftsleute im globalen Sklavenhandel und folglich auch in der Baumwollwirtschaft. Trotz fehlender kolonialer Ambitionen verstand die Schweizer Politik im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert den Kolonialismus als einen „selbstverständlichen Bestandteil der modernen Welt“. Dejung stellt auch einen anderen Punkt heraus, der in der eidgenössischen Geschichtsschreibung oft übersehen wird: Die Nationalität spielte für die großen wirtschaftlichen Akteure der Schweiz bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs keine Rolle. Ihre Unternehmen agierten multinational, ihre Identität war europäisch. Erst 1914 wurden für die eigene Nation und vor allem die Neutralität der Schweiz für die Wirtschaft des Landes überlebenswichtig.

Europäische Fortschrittsmodelle nicht mehr unangefochten

Auch auf die Frage, warum eine globale Perspektive – nicht nur auf die Schweiz – heute wieder interessanter wird, liefert Dejung eine Antwort: Nach dem Ende des Kalten Krieges haben sich die weltgesellschaftlichen Verhältnisse verändert. China ist zur globalen Wirtschaftsmacht geworden, auch Schwellenländer wie Indien, Taiwan und Korea behaupten sich erfolgreich im internationalen Wettbewerb. Weltweite Bedrohungen – Klimawandel, Flüchtlingswellen, die Destabilisierung ganzer Staaten – spielen eine immer grössere Rolle. Durch diese Entwicklungen und den aktuellen Stand der Globalisierung steht die Hegemonie europäischer Fortschrittsmodelle auf dem Prüfstand, die ihre ursprüngliche materielle Basis massgeblich in der Baumwollwirtschaft hatten.



Fazit: Die Schweiz profitiert global von ihrer Flexibilität

Was Globalisierung heute für die Schweiz bedeutet, können wir täglich in den Wirtschaftsnachrichten verfolgen. Schweizer Unternehmen und ihre Marken sind in der gesamten Welt präsent und geniessen dort einen ausgesprochen guten Ruf, viele internationale Konzerne unterhalten Schweizer Dependancen, ohne ausländische Spezialisten kommt kaum eine grosse Schweizer Firma aus. Historisch hat die Eidgenossenschaft mehr als einmal bewiesen, dass sie auf globale Veränderungen flexibel reagieren und mit vielen Partnern erfolgreich kooperieren kann. Diese Tatsache hat bisher dazu beigetragen, dass sich die kleine Schweiz in einer globalisierten Welt als wirtschaftliches Schwergewicht behauptet hat.

 

Obersts Bild: Baumwolle war eine der ersten Triebkräfte der Globalisierung. (© Jerry Horbert / Shutterstock.com)

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