Beschleunigt der Mindestlohn den Strukturwandel in der Schweiz?

Die Konjunkturforschungsstelle (KOF) der ETH Zürich gibt für die wirtschaftliche Entwicklung der Schweiz bis Ende 2015 eine grundsätzlich positive Prognose ab. Demnach wird das Bruttoninlandsprodukt in diesem und im kommenden Jahr um jeweils mehr als zwei Prozentpunkte wachsen. Sowohl die Inlandsnachfrage als auch die Exportwirtschaft ziehen nochmals deutlich an.

Auch der Arbeitsmarkt wird sich weiterhin positiv entwickeln. Unwägbarkeiten finden sich jedoch bei der Entwicklung der Arbeitsproduktivität, letztendlich also im Hinblick auf den Strukturwandel in der Schweizer Wirtschaft. Im Rahmen der Mindestlohndebatte gewinnt diese Frage an Bedeutung. Falls der Mindestlohn wirklich kommt, dürfte er – auf Kosten wenig qualifizierter Arbeitsplätze – die Arbeitsproduktivität nach oben treiben.

In der Vergangenheit verlief die Produktivitätsentwicklung in der Schweiz wie in den meisten anderen Ländern auch nicht linear. In den Krisenjahren kam hier auch der sinkende Bedarf an hochqualifiziertem Personal zum Tragen. Beispielsweise ging die Arbeitsproduktivität im Jahr 2012 um 0,7 % zurück – neue Arbeitsplätze entstanden in dieser Zeit vor allem im Dienstleistungsbereich, der normalerweise durch niedrige Produktivität geprägt ist. Die KOF geht bisher davon aus, dass die Arbeitsproduktivität in der Schweiz auch in der Zukunft eher gering bleibt. Dementsprechend werden aus ihrer Sicht auch die Nominallöhne der Arbeitnehmer in eher marginalem Umfang steigen.

Hoher Mindestlohn als sozialpolitisches Paradoxon

An dieser Stelle kommt der Mindestlohn ins Spiel und führt zu einem sozialpolitischen Paradoxon. Normalerweise betrachten Wirtschaftswissenschaftler den ökonomischen Strukturwandel – im Sinne fortschreitender Technisierung, Digitalisierung und auch Internationalisierung der Schweizer Wirtschaft – als positiv. Die Gewerkschaften wenden sich aber dagegen, da dieser Trend zu sukzessivem Stellenabbau führt, spielen doch gering qualifizierte Tätigkeiten im Rahmen nachhaltiger struktureller Änderungen eine immer geringere Rolle.

Der Mindestlohn ist aus Gewerkschaftssicht Garant einer nachhaltigen sozialen Absicherung der Arbeitnehmer am unteren Ende der Qualifikations- und Gehälter-Skala. Auf dem Niveau, das in der Schweiz geplant ist, dürfte er jedoch den Stellenabbau in diesem Sektor in hohem Masse fördern. Im Klartext: Viele Unternehmen werden auf den hohen Mindestlohn mit technischen Rationalisierungen oder der Verlagerung einfacher manueller Tätigkeiten in Länder mit billigeren Löhnen reagieren. Die Gewerkschaften scheinen diese Gefahren bisher nicht zu sehen.

Strukturwandel erfordert neue Qualifikationsprofile

Auch die Ökonomen wissen selbstverständlich, dass ein Arbeitsplatzverlust für die Betroffenen im Extremfall den Verlust der persönlichen Existenzgrundlage bedeuten kann. Trotzdem gehen sie davon aus, dass das Verschwinden bestehender Arbeitsplätze ebenso wie die Schaffung neuer Jobs in anderen Bereichen zum normalen ökonomischen Prozess gehört. Durch Globalisierung, Digitalisierung und neue, effizientere Technologien gerieten ganze Branchen unter Druck und mussten sich in grossen Teilen neu erfinden.

In solchen Prozessen – beispielsweise der Transformation der traditionellen Druck- und Medienindustrie in eine moderne, digital gestützte Medienstruktur – werden zwangsläufig Arbeitskräfte freigesetzt. Neu entstehende Stellen in modernen und wertschöpfungsintensiveren wirtschaftlichen Sektoren verlangen von geeigneten Mitarbeitern in der Regel völlig andere Qualifikationsprofile.

Mindestlohn – Aushebelung des sozialen Status quo?

Trotzdem sehen Wirtschaftswissenschafter den strukturellen Wandel positiv – ohne ihn wäre letztendlich kein wirtschaftliches Wachstum möglich. Aus Sicht der Gewerkschaften stört dies jedoch den geltenden sozialen Status quo – ironischerweise sind sie durch die Mindestlohninitiative jedoch derzeit dabei, das bisher gültige Gleichgewicht auf dem Arbeitsmarkt selber auszuhebeln. Wenn eine Vollzeitstelle die Unternehmen künftig mindestens 4000 Franken im Monat kostet, geraten niedrig qualifizierte Arbeitnehmer noch mehr unter Druck. Der Niedriglohnsektor würde hierdurch der Tendenz nach kleiner – den Unternehmen bliebe nichts anderes übrig, als ihre Produktivität zu steigern.

In einer Interpellation an den Bundesrat formulierte die Baselländer SP-Nationalrätin Susanne Leuteneger Oberholzer kürzlich, dass der Mindestlohn einen „Rationalisierungseffekt“ mit sich bringe. Auch Wirtschaftsminister Johann Schneider-Amman (FDP) erklärte in einem Medienstatement, dass 4000 Franken Mindestlohn den Strukturwandel beschleunigen sowie die Arbeitslosigkeit erhöhen würden.

Strukturwandel mit sozialem Augenmass – nur als „organischer“ Prozess

Die Skepsis von Unternehmern, Politikern und Ökonomen gegenüber dem Mindestlohn verweist also keineswegs nur auf den Wunsch, die Lohnkosten gering zu halten. Im Übrigen gehört die Schweiz im internationalen Vergleich auch im Hinblick auf wenig qualifizierte Tätigkeiten zu den Ländern mit den höchsten Löhnen, wie erst vor Kurzem eine OECD-Studie gezeigt hat. Der hohe gesetzlich garantierte Mindestlohn würde vor allem dazu führen, dass der ohnehin gegebene Strukturwandel künstlich beschleunigt wird, was den hierdurch eigentlich Begünstigten auf lange Sicht nicht hilft. Zudem reagieren Volkswirtschaften mit einem strukturellen Wandel normalerweise auf Marktveränderungen und durchlaufen damit einen „organischen“ Prozess, der durchaus auch soziales Augenmass ermöglicht.



Erforderlich: eine ausgewogene, jedoch leistungsorientierte Lohnstruktur

Das soziale Potenzial einer insgesamt ausgewogenen, jedoch im Grundsatz leistungsorientierten Lohnstruktur dürfte in der Schweiz durch den Mindestlohn zumindest der Tendenz nach ausgehebelt werden. Bereits heute liegt die Arbeitslosigkeit gering qualifizierter Schweizer Arbeitnehmer weit über dem Durchschnitt der Gesamtbevölkerung. Einige Ökonomen vergleichen die Mindestlohndebatte bereits mit der Diskussion über den hohen Wechselkurs des Franken: Reale Verteuerungen um 1 bis 2 % mögen verkraftbar sein, durch Währungsaufwertungen im zweistelligen Bereich geriete die Schweizer Wirtschaft jedoch zwangsläufig in Schwierigkeiten. Die Gewerkschaften hatten seinerzeit am frühesten und lautesten gefordert, den Höhenflug des Franken durch ein Nationalbank-Dekret zu stoppen, vertreten beim Mindestlohn jetzt jedoch eine entgegengesetzte Logik.

Der Schweizer Arbeitsproduktivität würde der Mindestlohn übrigens zumindest statistisch gut tun: Viele gering qualifizierte Mitarbeiter fielen aus dem Arbeitsmarkt heraus, andere würden umgeschult und in produktiveren Bereichen tätig werden. Eine solche Produktivitätssteigerung würde die sogenannte Sockelarbeitslosigkeit – also den Anteil der Menschen, die auf dem Arbeitsmarkt dauerhaft keine Chance haben – signifikant erhöhen und auf lange Sicht den Wohlstand der Gesellschaft schmälern.

 

Oberstes Bild: © Apatsara – Shutterstock.com, , Grafik: QDS Media

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