Soziale Mindeststandards am Beispiel Australien
Australien gehört zu den Ländern mit den historisch längsten Erfahrungen mit dem Mindestlohn. Heute beläuft sich dieser auf 16,37 Australische Dollar und ist damit der höchste nominale Mindestlohn der Welt, auf den Angestellte ab dem Alter von 20 Jahren Anspruch haben. Seine Höhe entspricht etwas mehr als der Hälfte des Medianlohns eines Vollzeitangestellten. Laut Angaben der OECD liegt er kaufkraftbereinigt bei 10,2 US-Dollar respektive 9,5 Franken.
Im Vergleich zum in der Schweiz geplanten Mindestlohn ist der australische trotzdem niedrig: Die Initiatoren des Votums fordern eine Lohnuntergrenze von 22 Franken. Das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) hat errechnet, dass dies kaufkraftbereinigt einem Wert von 14,1 US-Dollar entspricht. Der Schweizer Mindestlohn würde damit um 28 % über dem Niveau Australiens liegen. Er entspricht 64 % des Medianlohns, ist mit diesem jedoch nicht direkt vergleichbar, da die entsprechenden Berechnungen der Seco auf Vollzeit-Äquivalenten basieren.
Australien: Ruf nach Einfrieren des Mindestlohns
Den australischen Mindestlohn gibt es seit Anfang des 20. Jahrhunderts. Das Modell hat sich seitdem für den fünften Kontinent als tragfähig erwiesen. Vielen gilt es als wichtige soziale Errungenschaft. Inzwischen gibt es allerdings eine Debatte, die darauf abzielt, die Lohnuntergrenze auf dem aktuellen Status einzufrieren. Der Hintergrund dafür sind überdurchschnittlich gestiegene Lohnkosten, die sich abschwächende Konjunktur sowie die steigende Arbeitslosigkeit.
Im internationalen Vergleich ist die australische Arbeitslosenquote mit etwa 6 % zwar moderat, die Jugendarbeitslosigkeit ist inzwischen jedoch auf über 12 % gewachsen. Ein wichtiger Lohntreiber der vergangenen Jahre war allerdings der Investitionsschub in der Bergbauindustrie. Die Branche ist auf sehr hohe Löhne angewiesen, um für dringend benötigte Fachkräfte auch an entlegenen Einsatzorten attraktiv zu sein.
Mindestlohn-Empfänger: auf dem fünften Kontinent kein Massenphänomen
Interessant ist die australische Diskussion auch vor einem anderen Hintergrund. Mindestlohn-Empfänger sind in Australien keinesfalls ein Massenphänomen. Nach Angaben der Regierung leben davon derzeit nur 2,2 % aller Angestellten (ohne Beschäftigte in der Landwirtschaft). Eine Studie der Australian National University (ANU) weist für 2013 allerdings aus, dass mindestens die gleiche Anzahl von Australiern aus diversen Gründen ein Einkommen unterhalb der gesetzlich vorgeschriebenen Lohnuntergrenze bezieht. Die Wissenschaftler verweisen zudem auf eine alternative Datenbasis, die nahelegt, dass der Anteil der Mindestlohn-Empfänger doppelt so hoch ist wie nach Angaben der offiziellen Statistik.
Verlust von 88’000 Jobs durch die letzte Mindestlohn-Erhöhung?
Verantwortlich für die jährliche Anpassung des australischen Mindestlohns ist die nationale Arbeitskommission. Im März 2013 hat die Regierung an diese appelliert, bei der Neufestlegung der Lohnuntergrenze Zurückhaltung zu üben. Zwar stellt die nationalliberale Regierungskoalition den Mindestlohn als „Sicherheitsnetz für australische Arbeiter“ nicht infrage, jedoch mehren sich in der Gesellschaft auch die Stimmen, die eine grundsätzliche Revision dieser Praxis fordern.
Hierzu gehört beispielsweise das Institute for Public Affairs – ein liberaler Thinktank –, das öffentlich für das Einfrieren des Mindestlohns plädiert, sich hinter den Kulissen jedoch für dessen Abschaffung stark macht. Nach den Schätzungen des Instituts hat die 2,6%ige Erhöhung im vergangenen Jahr die Nachfrage nach Arbeit um etwa 9,75 % gesenkt. In ganz Australien handelt es sich dabei immerhin um 87’900 Jobs, die insbesondere für wenig qualifizierte Arbeitskräfte verloren gingen.
Mindestlohnsteigerungen müssen durch höhere Produktivität getragen werden
Derartige Berechnungen fussen allerdings auf unterschiedlichen Annahmen zur Elastizität der Nachfrage nach Arbeit. In den letzten Jahren kamen mehrere Studien zu dem Schluss, dass die Erhöhungen des Mindestlohns jeweils zu negativen Beschäftigungseffekten in Australien führten. Eine weitere Studie geht dagegen davon aus, dass diese Relation keine statistische Relevanz besitze, bezieht sich jedoch auf eine Periode, in der die Lohnuntergrenze nur in minimalem Umfang angehoben wurde.
Die Autoren der ANU-Studie sind generell der Meinung, dass die Beschäftigungseffekte des Mindestlohns nicht statisch oder isoliert betrachtet werden könnten. Vielmehr seien sie abhängig von den jeweils spezifischen Umständen in einem Arbeitsmarkt, der sowohl komplex als auch von Verzerrungen geprägt ist. Auch die ANU stellt jedoch heraus, dass dauerhafte Erhöhungen des Reallohns – also nicht ausschliesslich des Mindestlohns – grundsätzlich auch durch eine entsprechend höhere Arbeitsproduktivität getragen werden müssten.
Lohnuntergrenzen – zur Armutsbekämpfung ein eher „stumpfes Instrument“?
Der Ruf nach Abschaffung des Mindestlohns steht in Australien letztlich bisher für eine relativ isolierte Position, die Forderung nach keinen oder äusserst mässigen Erhöhungen hat demgegenüber eine breitere gesellschaftliche Basis. Linke Kreise – die oppositionelle Labor-Partei, Gewerkschaften und andere Institutionen – reagieren auf Überlegungen, die Lohnuntergrenze einzufrieren, allerdings mit einem Aufschrei. Insbesondere warnen sie davor, dass sich die Zahl der sogenannten Working Poor nach einem solchen Schritt immens vergrössern würde.
Durch harte Daten wird diese Annahme in Australien jedoch nicht gestützt. Weniger als ein Drittel der Mindestlohn-Empfänger lebt in den 20 % der ärmsten Haushalte des Landes. Im Hinblick auf die Armutsbekämpfung hat der Präsident der Fair Work Commission den Mindestlohn aus diesem Grund schon vor einem Jahr als „stumpfes Instrument“ bezeichnet.
Sind Mindestlöhne auch heute progressiv?
Historisch ist der australische Mindestlohn dagegen direkt aus gesellschaftlichen Intentionen zur Verminderung der Armut hervorgegangen. Zusammen mit Neuseeland spielte Australien zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Vorreiterrolle bei der Implementierung sozialer Mindeststandards. Gerade in liberalen bürgerlichen Kreisen wuchs seinerzeit die Empörung über das sogenannte „Sweating“, also extrem niedrige Löhne, welche notwendigste Lebensgrundlagen nicht sicherstellen.
Entscheidend für die Einführung des australischen Mindestlohns war schliesslich das Harvester-Urteil aus dem Jahr 2007, das die damals unbedingt notwendigen Miet- und Lebenshaltungskosten eines Haushalts und damit die Basis für den Mindestlohn definierte. Der sogenannte „Harvester-Standard“ führte seinerzeit zu einer signifikanten Erhöhung der Entlohnung ungelernter Arbeitskräfte.
Auch in den frühen Jahren des Mindestlohns auf dem fünften Kontinent gab es jedoch erste Evidenzen für damit verbundene negative Beschäftigungseffekte. Wie sich – mit diesen historischen Konditionen und auch mit dem Arbeitsmarkt Australiens nur bedingt vergleichbar – die Perspektive in der Schweiz gestaltet, ist jedoch bis auf Weiteres eine offene Frage. Sicher ist: Mindestlöhne waren – wie unter anderem das Beispiel Australien zeigt – historisch progressiv. Die Frage ist, ob sie es auch heute sind.
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