Globalisierung: Chance und Fluch zugleich?

Die Globalisierung ist eine der stärksten ökonomischen Triebkräfte unserer Zeit. Gesellschaften, die sich erfolgreich in diese Prozesse integrieren, schaffen damit die Voraussetzungen für Innovationskraft, Zukunftsfähigkeit und Wohlstand. Gleichzeitig birgt die Entwicklung in immer stärkerem Ausmass die Gefahr globaler Krisen.

Der südafrikanische Globalisierungs- und Entwicklungsexperte Ian Goldin gehört weltweit zu den renommiertesten Wissenschaftlern, die sich diesem Thema widmen. Heute ist er Direktor der Oxford St. Martin School an der University of Oxford. Zuvor war er unter anderem Vizepräsident der Weltbank und Chefökonom der Europäischen Entwicklungsbank. Dem früheren südafrikanischen Präsidenten Nelson Mandela diente er lange als ökonomischer Berater. In seinem aktuellen Buch „The Butterfly Defect“ (Der Schmetterlings-Defekt) geht er der Frage nach, welche „systemischen Risiken“ Globalisierungsprozesse mit sich bringen. Goldin schreibt, dass diese grundsätzlich auch das Potenzial hätten, Gesellschaften zu destabilisieren.

Die Möglichkeit „globaler Wirbelstürme“ – in allen gesellschaftlichen Bereichen

Globalisierung definiert der Wissenschaftler als weltweite wirtschaftliche, politische und soziale Vernetzung. Inzwischen ist sie zur Grundlage unserer Weltordnung geworden – mit der Folge, dass lokale oder regionale Unstimmigkeiten und Konflikte Einfluss auf das System als Ganzes haben. Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat eindrucksvoll gezeigt, in welchem Grad der Abhängigkeit nicht nur die Finanzmärkte, sondern auch die nationalen Volkswirtschaften untereinander stehen.

Goldin hebt jedoch hervor, dass die Möglichkeit „globaler Wirbelstürme“ nicht nur im Finanzbereich gegeben sei, sondern jedes denkbare System betreffen könne. Stichworte sind hier unter anderem Ökologie und Klimawandel, schwindende Ressourcen, wachsende soziale Ungleichheit, die Flüchtlingsproblematik oder Pandemien. Beispielsweise hatte der jüngste Ebola-Ausbruch durchaus das Potenzial zu einer globalen Katastrophe. Gleichzeitig erleben viele Regierungen, dass ihre Bürger den Folgen der Globalisierung zunehmend skeptisch gegenüberstehen und sich eine Rückkehr zu einem traditionellen nationalen Rahmen wünschen.


Die Globalisierung ist eine der stärksten ökonomischen Triebkräfte unserer Zeit. (Bild: Rawpixel – shutterstock.com)

Die Dynamik der Globalisierung ist fragil

Goldin hält dagegen, dass die Globalisierung die „stärkste progressive Kraft“ sei, die es in der Geschichte der Menschheit bisher gegeben habe, kann jedoch auch das Unbehagen daran nachvollziehen. Der Titel seines Buches geht auf einen Begriff aus der Chaostheorie zurück: Der US-amerikanische Mathematiker und Meteorologe Edward Lorenz hatte 1972 den sogenannten „Schmetterlings-Effekt“ beschrieben. Dieser besagt, dass komplexe und dynamische Systeme sehr empfindlich auf Abweichungen in ihren Ausgangsbedingungen reagieren können. Am Beispiel des Wetters ergab sich daraus die namensgebende – und sehr bildhaft formulierte – Frage, ob aus dem Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien in Texas ein Tornado entstehen kann. Die Entwicklung an der Börse zeigt tagtäglich, dass dies im übertragenen Sinne sehr wohl möglich ist. Die Dynamik der Globalisierung ist fragil.

Globalisierung – zwischen Potenzial und Krise

Andererseits waren Globalisierungsprozesse die entscheidende Voraussetzung für das Wirtschaftswachstum der vergangenen Jahrzehnte. In diesem Prozess haben es auch heute prosperierende Schwellenländer – an allererster Stelle China – geschafft, den „Strudel der Armut“ zu verlassen. Parallel dazu sind jedoch auch die systemischen Risiken immens gewachsen und ein „Teil der neuen Ordnung“ geworden. Die letzte Krise war in diesem Zusammenhang keineswegs ein singulärer Vorgang, sondern kann sich – mit den gleichen oder anderen Voraussetzungen – zu jedem beliebigen Zeitpunkt wiederholen.



Gravierende Führungsdefizite im globalen Dorf

Der Forscher sieht vor diesem Hintergrund bis auf Weiteres gravierende Führungsdefizite in globalem Massstab. Einerseits habe sich die Welt zum „vernetzten Dorf“ entwickelt, andererseits bleibe die Regulierung globaler Prozesse bislang vorwiegend nationalen Institutionen überlassen. Die Politik der einzelnen Staaten orientiere sich jedoch oft nicht an strategischen oder gar globalen Interessen, sondern vor allem am nächsten Wahltermin. Auch der technologische Wandel habe an der tendenziellen Unzulänglichkeit politischer oder juristischer Regelwerke seinen Anteil, da er inzwischen so schnell vonstatten gehe, dass jede mögliche Regulierung der realen Entwicklung hinterherhinke. Goldin will in diesem Kontext unter anderem internationale Institutionen stärken und mit grösserer Transparenz versehen.

Demokratische Legitimierung internationaler Institutionen

Auch die demokratische Legitimierung internationaler Gremien in einem „weltgesellschaftlichen“ Rahmen ist eine offene Frage, für die neue Lösungen gefunden werden müssen. In seinem Buch führt Goldin dafür ein recht eindrucksvolles Beispiel an: Das Bretton-Woods-System wurde nach dem Zweiten Weltkrieg als internationales Währungssystem mit flexiblen Wechselkursen, jedoch der fixen Kursbindung an den US-Dollar geschaffen. Zwar wurde diese Währungsordnung aufgrund von Systemmängeln sowie aktueller ökonomischer Entwicklungen bereits im Jahr 1973 aufgegeben, die ursprünglichen Bretton-Woods-Institutionen Weltbank und Internationaler Währungsfonds (IWF) üben jedoch bis heute grossen Einfluss aus. Fatal sei, dass die Stimmrechte in beiden Gremien noch immer die globalen Konstellationen von 1945 spiegelten. Beispielsweise spiele der Aufstieg der Schwellenländer hier bisher keine Rolle.

Gefahren der globalen Überregulierung – und von Sonderinteressen

Eine Absage erteilt Goldin einer globalen Überregulierung, die er als einen Teil des Problems betrachtet. Vielmehr gehe es darum, die jeweils Verantwortlichen für ein Problem mit globalen Auswirkungen zu benennen, die dann auch gemeinsam eine Lösung finden sollten. Im Interview mit der „Handelszeitung“ nennt er als Beispiele hierfür wieder die Finanzkrise sowie den Klimawandel. Verantwortlich für den Grossteil der globalen Finanzströme sind demnach etwa ein „halbes Dutzend“ Länder, die also auch in der Pflicht sein müssten, entsprechende Regulierungen und Sicherheitsnetze zu entwickeln. Im Hinblick auf den Klimawandel sieht es nicht viel anders aus, da 90 Prozent der Klimagase von einigen wenigen Staaten stammen.

Für diese Vision einer jeweils fokussierten globalen Führung hat Goldin allerdings auch Kritik geerntet. In einem „NZZ“-Artikel heisst es, dass die von ihm angemahnten Reformen an der „weitverbreiteten Machbarkeits-Anmassung“ krankten. Aus einem Modell funktionaler politischer Kooperation gehe noch lange nicht hervor, ob – unter anderem angesichts der Macht von Interessenkartellen – auch die Umsetzung in den jeweiligen Ländern funktioniert. So hätten etwa die währungspolitischen Vereinbarungen der G7 keinen Einfluss auf die globalen makroökonomischen Ungleichgewichte gehabt, sondern die Probleme lediglich von einem zum anderen Land verschoben.



Soziale und globale Ungleichheit – die Gefahr der Zukunft

Goldin geht jedenfalls nicht davon aus, dass die Zukunft eine „Krisen-Kaskade“ mit sich bringen wird. Auch die Finanzkrise hätte aus seiner Sicht verhindert werden können, nachdem absehbar war, dass eine Insolvenz der New Yorker Investmentbank Lehman Brothers massive Liquiditätsengpässe und den tendenziellen Zusammenbruch des „Interbankenmarktes“ zur Folge haben würde. Das Problem bestand seinerzeit vor allem darin, dass die Menschen „blind“ gewesen seien und die Dynamik nicht begriffen hätten. Seit der Lehman-Brothers-Pleite habe sich auf nationaler und internationaler Ebene viel getan – ebenso viel oder mehr bleibe allerdings zu tun.


Diese Statistik zeigt das Ergebnis einer Umfrage zur Verschärfung der sozialen Ungleichheit durch die Globalisierung. (Quelle: © Statista)

Eine Quelle sozialer Ungleichheit im nationalen wie im globalen Rahmen sei beispielsweise die sogenannte Steuerarbitrage – der Ausweis von Unternehmensgewinnen in Niedrigsteuer-Ländern. Wenn Gesellschaften nicht in der Lage seien, solche Probleme effektiv zu lösen, setzten sie über die Manifestation von Ungleichheit eine „Abwärtsspirale“ in Gang, die das Überleben eines politischen Systems gefährden und Protektionismus, Nationalismus und Fremdenhass zur Folge haben könne.

 

Oberstes Bild: © everything possible – shutterstock.com

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