Demografischer Wandel: Kostenexplosion im Gesundheitswesen?

Der demografische Wandel macht nicht nur den Unternehmen Sorgen. Die steigende Lebenserwartung stellt auch die Kranken- und Pflegeversicherung vor wachsende Probleme. Zwar beträgt der Anteil der über 79-Jährigen in der Schweiz derzeit nur knapp 5 %, bis 2050 wird er allerdings auf rund 12 % gestiegen sein. Angesichts dieser Perspektiven schlagen einige Experten bereits jetzt Alarm. Aufgrund der „Überalterung der Gesellschaft“ prognostizieren sie eine nicht mehr tragbare Kostenexplosion im Gesundheitswesen oder auch den Pflegenotstand.

In einem Artikel für die „NZZ“ geht der Züricher Wirtschaftswissenschaftler Peter Zweifel der Frage nach, ob derart düstere Prognosen wirklich realistisch sind und wie die Politik sowie die Versicherungsbranche gegensteuern können. Als Lösungsansatz hat er eine Kombination aus Kranken-, Pflege- und Pensionsversicherung im Visier.

Gesellschaftliches Ideal: Gesundes Leben, rascher Tod

Das gesellschaftliche Ideal besteht zumindest in westlichen Gesellschaften in einem möglichst langen und gesunden Leben. Mediziner beschreiben diesen Wunsch mit dem Begriff der „perfekten Rektangularisierung“: Der Mensch bleibt bis kurz vor seinem Tod zu 100 % gesund und stirbt dann plötzlich. Alterskrankheiten und vor allem ihre Kosten sind in einem solchen Modell naturgemäss nicht vorgesehen.

In den vergangenen 50 Jahren hat sich die Lebensrealität einer wachsenden Zahl von Menschen diesem Idealbild angeglichen – ihre gesunde Lebenszeit hat in diesem Zeitraum deutlich zugenommen. Die Belastung durch Krankheit und damit auch eine zu erwartende Pflegebedürftigkeit setzen – bei steigender Lebenserwartung – später ein als vor 50 Jahren. Zweifel leitet daraus ab, dass es aufgrund dieses Trends nicht zum prognostizierten Pflegenotstand kommen werde.

Soziale Sicherungssysteme müssen auf den demografischen Wandel reagieren

Relevanter sind dagegen steigende Gesundheitskosten. Zum einen versuchen gerade ältere Menschen, durch die Inanspruchnahme medizinischer Leistungen ihre gesunde oder beschwerdearme Lebensphase so lange wie möglich zu erhalten. Zum anderen steigt die Morbidität respektive Krankheitshäufigkeit mit dem Lebensalter an. Den gleichen Trend zeigen auch die Gesundheitskosten, die in den letzten Jahren und Monaten vor dem Tod ihren Gipfelpunkt erreichen.

Zweifels These, dass der medizinische Aufwand in der letzten Lebensphase oft eine „wenig sinnvolle Investition in Gesundheit“ sei, sei einmal dahingestellt. Dass die sozialen Sicherungssysteme auf den demografischen Wandel reagieren müssen, um ihre Leistungsfähigkeit nicht einzubüssen, ist dagegen unbestreitbar. Der Wirtschaftswissenschaftler sieht hier zunächst sowohl die sozialen als auch die privaten Versicherungen in der Pflicht.


Anreize für individuelles Sparen an den Gesundheitskosten. (Bild: Andy Dean Photography / Shutterstock.com)
Anreize für individuelles Sparen an den Gesundheitskosten. (Bild: Andy Dean Photography / Shutterstock.com)


Anreize für individuelles Sparen an den Gesundheitskosten?

Aus seiner Sicht müssen die Anreize der Assekuranzen gerade gegenüber älteren Menschen in Richtung Sparen gehen, was verschiedene internationale Konzepte bereits jetzt belegen. Vorbildlich ist aus Zweifels Sicht hier unter anderem Singapur, das für die Kompensation der Gesundheitskosten älterer Menschen die sogenannten „Medical Saving Accounts“ entwickelt hat: Einzahlungen von 7 bis 9,5 % des Arbeitseinkommens in die obligatorische Krankenversicherung sind für jeden Einwohner Singapurs verbindlich. Wer keine Leistungen in Anspruch nimmt, erhält dafür eine individuelle Gutschrift, die im Todesfall auch vererbbar ist und damit das soziale Sicherungsnetz auch auf den Ehepartner, nahe Angehörige oder die nächste Generation erweitert. Im Vergleich zu den USA, wo solche Reserven oft noch kurz vor dem Lebensende entnommen werden, da sie sonst verfallen, hat Singapur – mit einem auf individuelle Verantwortlichkeit ausgerichteten System – eine nachhaltigere Variante der lebenslangen Gesundheits- und Pflegeabsicherung geschaffen.

Die Alternative dazu ist der Abschluss einer privaten Pflegeversicherung, die das Verarmungsrisiko durch eine Langzeitpflege aufhebt oder mindert. Allerdings zeigt das Beispiel der USA, dass die Motivation für eine derartige Absicherung gering ist. Bei einer Bevölkerung von 314 Millionen Menschen existieren dort bisher nur sieben Millionen private Pflegeversicherungsverträge.

Vernetzung von Kranken- und Pflegeversicherung sowie Rentenkassen

Als zukunftsweisendes Konzept betrachtet der Wissenschaftler eine Kombination aus Kranken- und Lebensversicherung sowie eine enge Vernetzung mit den Rentenkassen. Ein solches Modell würde es durch den gemeinsamen Beitragssatz ermöglichen, Gesundheits- oder Pflegekosten flexibel und entsprechend dem individuellen Bedarf zwischen den verschiedenen Versicherungssparten zu transferieren. Wenn durch eine Krankheit – beispielsweise Krebs – die verbleibende Lebenserwartung deutlich reduziert ist, könnte die – in Zweifels Definition private – Pensionskasse die zu erwartenden geringeren Rentenzahlungen mit dem steigenden Pflegeaufwand verrechnen, also die Pension so aufstocken, dass der Patient bei seiner Pflege und medizinischen Behandlung besser unterstützt wird.

Umfangreiche Prognosearbeiten und Kostendeckelung

Als Voraussetzung für einen solchen kombinierten Ansatz kämen auf die Versicherungen allerdings umfangreiche Prognosearbeiten zu. Zum einen müssten sie für bestimmte Versichertengruppen die sogenannte Absterbeordnung ermitteln. Diese gibt an, wie viele Personen aus einer Grundgesamtheit von meist 100’000 Lebendgeborenen bis zu einer bestimmten Altersgrenze überleben. Zudem müssten sie diese Daten auf die Zukunft projizieren sowie das Multimorbiditäts-Risiko ihrer Versicherten schätzen. Bei privaten Rentenversicherungen in Grossbritannien ist diese Praxis bereits eingeführt – Zweifel betrachtet sie auch für die Schweiz als richtungsweisend.

Ausserdem spricht sich der Experte für eine Deckelung der Kostenübernahme für die „heroischen“ medizinischen Interventionen am Lebensende aus. Darüber hinausgehende Behandlungen müssten die Versicherten aus eigener Tasche zahlen, was sowohl Patienten als auch Mediziner dazu bewegen soll, über die Sinnhaftigkeit bestimmter Therapien nachzudenken. Zweifel betrachtet seine Thesen als ein Innovationsprogramm, das angesichts einer alternden Gesellschaft sowohl für die privaten als auch die sozialen Versicherungsträger der Schweiz geeignet ist. Die Politik müsste dafür bereits heute entsprechende Rahmenbedingungen schaffen.

Die Bewältigung des demografischen Wandels geht über reine Ökonomie hinaus

Als ein Fazit: So interessant Zweifels Thesen sind – an mehr als einer Stelle werfen sie auch Grundsatzfragen auf. Der Wissenschaftler setzt im Kern auf ein relativ konsequent privat finanziertes Sicherheitssystem, der Staat soll aus seiner sozialen Verantwortung tendenziell entlassen werden. Auch die Deckelung der Kostenübernahme für Therapien ist – zumal im höheren Lebensalter – nicht nur positiv zu werten, zumal sich hier eine standardisierte Herangehensweise gegenüber einer individuellen medizinischen Indikation von selbst verbietet. Das Resultat bestünde sonst in einer konsequenten Zwei-Klassen-Medizin und -Pflege.

Zu wünschen ist, dass die Bewältigung des demografischen Wandels nicht allein unter ökonomischen Gesichtspunkten erfolgt, sondern zu einem gesellschaftlichen Thema wird, bei dem neben finanziellen auch soziale und individuelle Aspekte eine Rolle spielen.

 

Oberstes Bild: © BortN66 – Shutterstock.com

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