Burnout - die Krankheit der digitalisierten Welt?

Burnout gilt in den Industriegesellschaften als Massenphänomen. Die chronische Erschöpfung befällt vor allem engagierte und leistungsstarke Menschen, für manche von ihnen bedeutet sie den dauerhaften Abschied vom Beruf. Als volkswirtschaftlicher Faktor ist Burnout nicht zu unterschätzen – die gesellschaftlichen Folgekosten addieren sich jedes Jahr auf etwa vier Milliarden Franken.

Wie sich Überforderung und permanenter Stress vermeiden lassen, beschäftigt die Entscheidungsträger in den Firmen ebenso wie Ärzte und Psychologen. Der Berner Historiker Patrick Kury stellt in seinem Buch „Der überforderte Mensch“ jedoch eine andere These auf. Aus seiner Sicht sind Stress und Burnout nicht nur ein medizinisches, sondern auch ein kulturelles Phänomen, das aus der Leistungsgesellschaft und der digitalen Welt erwächst.

Aus dieser Perspektive ist Stress in seiner heutigen Definition keineswegs so alt wie die Menschheit selbst. Vielmehr tauchte der Begriff zum ersten Mal während des Zweiten Weltkriegs auf und war zunächst eng mit traumatisierenden Kriegserlebnissen verbunden. Gedanklich mit der Arbeitswelt verbunden wurde er erst in den 1960er und 1970er Jahren – ein Prozess, den Patrick Kury als „diskursive Explosion von Stress“ beschreibt. Seit den 1990er Jahren hat sich daraus die Burnout-Diskussion entwickelt.

Soziales Unbehagen an der Dynamik der Epoche

Die Gründe dafür macht Kury in der Dynamik und rasanten Beschleunigung unserer Epoche aus. Das Internet und digitale Technologien ermöglichen virtuelle Kommunikation rund um die Uhr, die Grenzen zwischen Arbeit und Privatem werden fliessend. Von den Menschen werden diese Entwicklungen als belastend wahrgenommen. Die Begriffe Stress – und in der Folge Burnout – erlauben es, diese Belastung auszudrücken. Das Burnout-Phänomen beschreibt der Autor als eine Zivilisationskrankheit, die mit der Dienstleistungsgesellschaft entstanden ist. Semantisch sind beide Begriffe offen, so dass Menschen darin Raum für den Ausdruck ihres Unbehagens und ihre körperlichen Leiden finden können.

Burnout wurde in den 1970er Jahren zunächst im Zusammenhang mit dem Ausbrennen von in sozialen Berufen tätigen Menschen beschrieben, war in diesem Kontext „weiblich“ besetzt und auf die Kombination von hoher Arbeitsbelastung, niedrigem Status und wenig Autonomie gerichtet. Männer in höheren hierarchischen Positionen wurden dagegen von der sogenannten Managerkrankheit heimgesucht, die als Leiden einer überforderten Elite galt.

Beide Erkrankungen setzen eine Serie von Belastungssyndromen fort, die mit unterschiedlichen Phasen der bürgerlichen Moderne verbunden sind. Ende des 19. Jahrhunderts gab es zunächst die Neurasthenie – eine Nervenschwäche, die in der damaligen Medizin ebenso wie in der öffentlichen Meinung mit dem Siegeszug von elektrischen Kommunikations- und Verkehrsmitteln verbunden war. Die Managerkrankheit oder „vegetative Dystonie“ galt als Automatisierungsfolge.

Das Burnout – das inzwischen beiden Geschlechtern und allen hierarchischen Ebenen zugestanden wird – erscheint heute als die Krankheit der digitalisierten Welt.

Anpassung an die Leistungsgesellschaft ebenso wie Rebellion dagegen

Vor diesem Hintergrund wird auch die gedankliche Verbindung von Burnout mit fehlenden materiellen oder ideellen Gratifikationen obsolet. Patrick Kury schreibt, dass die Konzepte „Stress“ und „Burnout“ auch und gerade wegen ihrer Unbestimmtheit so erfolgreich waren und als Projektionsfläche für sehr unterschiedliche individuelle oder soziale Phänomene dienen können. Zum einen erfolgt hierdurch eine Vergesellschaftung von Krankheit: Seit den 1970er Jahren erlebte die Psychologie ihren allgemeinen Durchbruch, was – zunächst vor allem in den USA – zu einer „Therapeutisierung“ der Gesellschaft führte.

In diesem Prozess entstanden für die Psychologen im Umfeld von Stress und Burnout neue Arbeitsfelder. Gleichzeitig füllen Therapeuten und Coaches heute auch ein soziales Vakuum, das früher durch traditionelle Institutionen – beispielsweise die Familie oder Religionsgemeinschaften – besetzt war. Zum anderen liefern die Zivilisationskrankheiten selbst schlüssige Erklärungsmuster für soziales Leiden und persönliche Probleme.


In einer dynamischen Leistungsgesellschaft sind Menschen zum Erfolg verdammt, wenn sie nicht zu sozialen Aussenseitern werden wollen. (Bild: The Cute Design Studio / Shutterstock.com)


In einer dynamischen Leistungsgesellschaft sind Menschen zum Erfolg verdammt, wenn sie nicht zu sozialen Aussenseitern werden wollen. Die Definition von Stress als Ursache für körperliches Leiden und Burnout als einer daraus resultierenden manifesten Krankheit eröffnete die Möglichkeit eines legitimen Ausstiegs aus dem Hamsterrad. In der Praxis sind die Symptome von Depressionen und Burnout nur schwer zu unterscheiden, von der WHO wird Burnout bisher nicht als Behandlungsdiagnose anerkannt. Im Unterschied zu Depressionen führt die chronische Erschöpfung jedoch kaum zu sozialer Stigmatisierung – mit ihrem Ausbrennen machen die Betroffenen auch deutlich, dass sie bisher zu den Leistungsträgern der Gesellschaft zählten.

Ausgebrannt und gestresst zu sein, hat in der öffentlichen Meinung im Gegenteil sogar ein positives Image. Der Einzelne wird durch das Reden über Stress entlastet und kann damit auch eine Begründung für Misserfolge oder einen temporären Leistungsabfall liefern. Aus dieser Konstellation bezieht heute eine gigantische Industrie ihre Geschäftsgrundlage. Wir sollen in immer grösserem Umfang „Selbsttechnologien“ erlernen, um auch unseren Stress erfolgreich „managen“ zu können. Als Krankheitsursache drückt Stress ebenso die Anpassung an die Leistungsgesellschaft wie die Rebellion dagegen aus.

Individualisierung von gesellschaftlichen Konstellationen

Für den Umgang mit den realen Belastungen hat diese Perspektive jedoch Folgen. Patrick Kury spricht in diesem Zusammenhang davon, dass durch die Individualisierung von Stress und Burnout die Verantwortung der Gesellschaft oder Unternehmen für virulente soziale Problemlagen entfällt – mit durchaus offenem Ausgang. Nachdem die Burnout-Diskussion in den vergangenen zwei Jahren in den Medien omnipräsent war, ist sie inzwischen beträchtlich abgeflaut.

Viele Firmen haben zwar erkannt, dass aktive Burnout-Prävention ein wirtschaftlicher Faktor ist – zu einer nachhaltigen Entlastung der Arbeitnehmer führt diese Erkenntnis jedoch in aller Regel nicht. Vielmehr zeichnet sich zumindest in Einzelfällen ab, dass sich Burnout durchaus von einer Erkrankung der Leistungsträger zu einem Stigma werden kann. Die Betroffenen haben ihr persönliches Stressmanagement dann eben nicht bewältigt.

 

Oberstes Bild: © Zurijeta – Shutterstock.com

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