Wie liberal müssen Arbeitsmärkte sein?

Schweizer Arbeitgeber treibt die Frage um, wie sie – falls er denn kommt – auf den Mindestlohn reagieren werden. Sicher ist bisher lediglich, dass das im internationalen Vergleich exorbitant hohe Grundsalär viele Firmen überfordern wird. Was ein Grosskonzern noch stemmen kann, dürfte zahlreiche kleine und mittlere Unternehmen an ihre wirtschaftliche Belastungsgrenze bringen.

In einem Artikel für die „Handelszeitung“ wirft Matthias Ohanian eine andere Frage auf: Der Mindestlohn ist de facto eine Attacke auf die recht weitgehende Liberalität des Schweizer Arbeitsmarktes. Aber wie liberal müssen Arbeitsmärkte wirklich sein, um sowohl die Bedürfnisse der Unternehmen als auch die der Arbeitnehmer zu erfüllen?

Aus Sicht der Wirtschaft ist die Antwort auf diese Frage bisher klar: Ein unternehmensfreundlicher Arbeitsmarkt muss so liberal wie möglich sein und damit den Bedürfnissen der Unternehmen weit entgegenkommen. UBS-Chef Lukas Gähwiler betrachtet die Entwicklung in der Schweiz denn auch mit Sorge – als problematisch sieht er vor allem die zu erwartenden Zuwanderungsrestriktionen an. Bei einem Medientermin in Zürich liess der Firmenlenker wissen, dass sein Haus bereits seit Jahren Schwierigkeiten habe, in ausreichendem Masse qualifiziertes Personal zu finden. Der liberale Arbeitsmarkt der Schweiz sei bisher ein gewichtiger Standortvorteil, der künftig jedoch möglicherweise verloren gehe.

Welche Kriterien muss ein liberaler Arbeitsmarkt erfüllen?

Ohanian nähert sich dem Thema von einer anderen Seite. Er fragt, was ein liberaler Arbeitsmarkt eigentlich ist und welche Anforderungen er erfüllen muss. Nach landläufigen ökonomischen Kriterien ist ein Arbeitsmarkt dann in hohem Masse liberal, wenn Unternehmen Arbeitskräfte leicht einstellen, aber auch entlassen können. Ausserdem gibt er ihnen weitgehende Entscheidungsmacht über die Höhe der Gehälter, wozu ein Mindestlohn – zumal in der anvisierten Schweizer Höhe von 4000 Franken für eine Vollzeitstelle – nicht einmal ansatzweise passt. Die andere Seite der Medaille ist: Auch ein sehr hoher Grad der Liberalisierung führt nicht zwangsläufig dazu, dass möglichst viele Menschen eine Stelle haben.

Niedrige Regulierung liefert nicht automatisch Beschäftigungsgarantien

Beispielsweise schlägt sich im internationalen Vergleich der Arbeitsmarkt der Schweiz besonders gut. Die Erwerbslosenquote nach der Definition der Internationalen Arbeitsorganisation (International Labour Organization, ILO) liegt lediglich bei 4 %, im globalen Massstab ist dies ein herausragender Wert. Im Hinblick auf die Aufnahmeleistung ihres Arbeitsmarktes hält hier selbst eine boomende Volkswirtschaft wie Kanada nicht mit: Ebenso wie die Schweiz war das nordamerikanische Land nur in geringem Umfang von der Finanzkrise betroffen und zeigt seit 2008 ähnliche Wachstumsraten wie die Schweizer Wirtschaft.

Der kanadische Arbeitsmarkt ist traditionell nur sehr wenig reguliert, unter den 34 OECD-Mitgliedsstaaten liegt er im Hinblick auf seine Liberalität an zweiter Stelle. Der individuelle Kündigungsschutz – definiert anhand von Kündigungsfristen, Entlassungskosten, Abfindungszahlungen sowie der Dauer von Probezeiten – ist in Kanada nochmals deutlich lockerer als in der Schweiz. Auch Massenentlassungen sind für die Firmen einfach.

Trotzdem liegt die ILO-Erwerbslosenquote mit zuletzt 7,4 % dort deutlich höher. Auch in den USA schlägt sich die traditionell sehr hohe Liberalität des Arbeitsmarktes nicht in einer extrem niedrigen Arbeitslosenquote nieder, der letzte von der ILO ausgewiesene Wert lag ebenfalls bei 7 %.

Deutsches „Jobwunder“ – trotz hoher Arbeitsmarktregulierung

Österreich und Deutschland haben – bei im Vergleich zur Schweiz jeweils recht stark regulierten Arbeitsmärkten – in den vergangenen Jahren dagegen wahre „Jobwunder“ erlebt. In Österreich hat die international vergleichbare ILO-Erwerbslosenquote zeitweise sogar die Schweizer Werte unterboten, heute liegt sie in beiden Ländern bei etwa 5 %.

Speziell das deutsche Beispiel ist bei Arbeitsmarkt-Experten allerdings umstritten: Ein Analyst des Zuger Anleihe-Investors Bantleon stellte kürzlich fest, dass inzwischen sogar der griechische Arbeitsmarkt liberaler sei als der deutsche. Der frühere Chefökonom der Europäischen Zentralbank, Otmar Issing, konstatierte, dass sich die „bereits hohen Rigiditäten“ auf dem deutschen Arbeitsmarkt derzeit nochmals verschärften. Issing geht davon aus, dass das deutsche Jobwunder seine Grundlage vor allem in der Liberalisierung des Arbeitsmarktes habe und Deutschland durch neue Restriktionen dabei sei, seine aktuell starke Position zu untergraben. Im Extremfall folge daraus ein so negativer Trend, dass sich Deutschland der wirtschaftlichen Position der europäischen Krisenländer nähere.

Eine aktuelle Studie mehrerer deutscher Wissenschaftler kommt allerdings aufgrund von recht umfangreichen Analysen zu einem gegenteiligen Schluss. Demnach hat Deutschland seine Wettbewerbsfähigkeit gerade durch die sozialpartnerschaftliche Kooperation zwischen Arbeitgebern, Betriebsräten und Gewerkschaften massgeblich gesteigert. Die sogenannten Hartz-Reformen, die seit dem Beginn der 2000er-Jahre auf eine Liberalisierung des Arbeitsmarktes zielten, hätten dagegen auf den wirtschaftlichen Erfolg des Landes nur einen marginalen Einfluss gehabt.


Europäische Krisenländer: Liberalisierung schafft keine neuen Arbeitsplätze. (Bild: Symbiot / Shutterstock.com)
Europäische Krisenländer: Liberalisierung schafft keine neuen Arbeitsplätze. (Bild: Symbiot / Shutterstock.com)


Europäische Krisenländer: Liberalisierung schafft keine neuen Arbeitsplätze

Auch die Arbeitsmarktliberalisierungen in den Problemländern der Eurozone halten offensichtlich nicht, was sich die Wirtschaftswissenschaftler davon versprechen. Im Gegensatz zu Deutschland wird in Griechenland, Portugal oder Spanien kräftig liberalisiert. Laut OECD-Angaben ist der Mindestlohn hier zwischen 2009 und 2013 um fast 25 % gesunken. Der Kündigungsschutz wurde sukzessive ausgehebelt, sozial wenig abgesicherte Teilzeitstellen befinden sich auf dem Vormarsch.

Den betroffenen Arbeitsmärkten haben diese Massnahmen jedoch kaum geholfen. Seit 2009 ist die Arbeitslosenquote in den drei Ländern von knapp 10 auf heute fast 29 % gestiegen. Neue Stellen wurden durch die Liberalisierung ihrer Arbeitsmärkte kaum geschaffen.

Die Schweiz: wirtschaftliche Leistungskraft als komplexer Standortvorteil

Unser Fazit für die Schweiz: Ein möglichst liberaler Arbeitsmarkt ist nicht das hauptsächliche oder massgebliche Kriterium für den Erfolg oder Misserfolg einer Volkswirtschaft. In Bezug auf die aktuellen Entwicklungen in der Schweiz – die Folgen des Masseneinwanderungs-Votums sowie der bisher noch offenen Mindestlohn-Debatte – ist daher auch eine gute Portion Gelassenheit gefragt. Die Standortpräferenzen vieler Unternehmen für die Schweiz ergeben sich keinesfalls nur aus der Liberalität ihres Arbeitsmarktes, sondern aus der Gesamtheit eines leistungsstarken wirtschaftlichen Umfelds.

 

Oberstes Bild: © gor.stevanovic – Shutterstock.com

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