Fehlende Work-Life-Balance - nur durch den Job oder doch ein ganzheitliches Phänomen?

Kommt Ihnen dieses Szenario bekannt vor? Von Montag bis Freitag hat die Firma absolute Priorität, möglicherweise verbringen Sie auch einen Teil der Abendstunden im Büro oder nehmen Arbeit mit nach Hause. Vielleicht erwarten Ihre Vorgesetzten auch, dass Sie spätabends noch auf E-Mails reagieren. Am Wochenende freuen Sie sich zwar auf etwas freie Zeit. In der Praxis siegt jedoch auch hier sehr oft die Planung: Der Haushalt will erledigt sein, ein Grosseinkauf steht an, die Tochter will zu einem Wettkampf ihres Sportvereins gefahren werden.

Das Problem zieht sich durch alle Ebenen der Firmenhierarchie. In den vergangenen Jahren hat eine beträchtliche Verdichtung der Arbeit stattgefunden. Durch Rationalisierungsmassnahmen und nicht zuletzt den immer globaleren Wettbewerb teilen sich immer weniger Mitarbeiter eine immer grössere Arbeitsmenge. 

Ständige Erreichbarkeit über Smartphones und Mobilcomputer ist nicht nur ein Ausdruck unseres Effizienzwahns, sondern lässt sich bei international aufgestellten Unternehmen oft auch aus sachlichen Gründen nicht vermeiden. Selbstständigen und Unternehmern sitzt die Angst vor der globalen Konkurrenz und sinkenden Margen oft besonders stark im Nacken. Berufstätige Eltern leiden zusätzlich darunter, dass sie die Anforderungen von Beruf und Kindern nur bedingt verbinden können. Die Frage ist, ob der Dauerstress sich ausschliesslich aus dem Job ergibt oder ob hier nicht noch andere Faktoren eine Rolle spielen.

Nicht nur die Arbeit, sondern auch das private Leben wird zur Erschöpfungsfalle

Die Grundlagen für die überhand nehmende Zeitbelastung wurden sicher in der modernen Arbeitswelt geschaffen. Entsprechend stark sind in den Industrieländern arbeitsbedingte psychische Erkrankungen auf dem Vormarsch – mit gravierenden Folgen für die jeweiligen Volkswirtschaften: Zum Teil geht bereits die Hälfte von Krankheitstagen und Frühverrentungen auf psychische Belastungen zurück.

Laut einer Studie der Uni Zürich belaufen sich die durch Depressionen und Burnout verursachten direkten und indirekten Kosten pro Jahr auf mehr als zehn Milliarden Franken – mit steigender Tendenz. In den Unternehmen hat sich im Gegenzug in den letzten 20 Jahren eine „Kultur der Sorglosigkeit“ ausgebreitet, sofern es um die Arbeitsbelastung ihrer Mitarbeiter geht. Immer straffere Zielvereinbarungen sind oft komplementär zu immer längeren Arbeitszeiten. Der Sinn der Arbeit bleibt dabei für viele allmählich auf der Strecke, auch hieraus ergibt sich ein relevanter Burnout-Faktor.

Auch das Privatleben wird heute jedoch oft zur Erschöpfungsfalle. Wir bewegen uns tagtäglich in vielen unterschiedlichen Rollen – und speziell als Verbraucher sind wir beispielsweise anspruchsvoll und wählerisch geworden. Für sehr viele Menschen gehört heute die Suche nach dem optimalen Preis-Leistungs-Verhältnis für Produkte und Dienstleistungen zu den wesentlichen Aspekten ihres Alltags.

Auch in unseren privaten Beziehungen macht sich nicht selten Perfektionismus breit. Ein individuelles – und oft ehrgeizig definiertes – Sportprogramm gehört für ambitionierte Menschen heute schon fast zum guten Ton. Und natürlich wollen wir die perfekten Freundschaften und ein perfektes Familienleben. Die Summe ihrer verschiedenen Anforderungen, Aufgaben und Rollen überfordert viele Menschen – Verzicht und Reduktion als Gegenmittel sind für die meisten jedoch wenig oder gar nicht akzeptabel.

Auch die Konsumgesellschaft als solche verschärft das Phänomen: Aus dem Eigenheim, dem neuen Auto oder der Traumreise in ferne Länder ergeben sich auch materielle Zwänge. Dabei geht es nicht zuletzt um Sozialprestige – in unserem sozialen Umfeld möchten wir „mithalten“ können und uns möglichst auch nicht nur zum „guten Durchschnitt“ zählen. Aus diesem Anspruch an uns selbst resultiert weiterer Stress, den wir jedoch oft gar nicht reflektieren.

Kampf um Anerkennung und Sozialprestige führt zu Perfektionismus

An dieser Stelle schliesst sich der Kreis zur Arbeitswelt. Der nächste Schritt auf der Karriereleiter ist oft sowohl aus materiellen als aus prestigebezogenen Gründen unverzichtbar. Wenn wir uns gegen dieses „Hamsterrad“ entscheiden, befürchten wir, aus unseren Lebensgrundlagen ebenso wie aus unseren sozialen Beziehungen tendenziell herauszufallen.

Die permanente Erreichbarkeit über digitale Medien spielt hier nochmals eine eigene Rolle. Die virtuellen Welten und Kontakte haben wir längst in unser Alltagsleben integriert – um den Preis, dass die Grenzen zwischen Arbeit und Privatem immer mehr zerfliessen. Dabei geht es keineswegs ausschliesslich um Effizienz respektive den realen oder gefühlten Druck des Arbeitgebers, sondern ebenso um unseren eigenen Wunsch nach positiver Präsenz und Anerkennung.

Verschiedene Studien zeigen, dass rund die Hälfte der Befragten von ihren hohen Ansprüchen an sich selbst gestresst ist, Frauen reflektieren diesen Umstand in nochmals etwas höherem Mass als Männer. Das Ergebnis eines solchen Perfektionismus: Der Alltagsdruck entfaltet sich von allen Seiten, Überforderung ist damit ebenso auf recht komplexe Weise programmiert. Viele reagieren zunächst so darauf, dass sie auf ein privates Leben und vor allem auf echte Ruhepausen de facto total verzichten – in letzter Konsequenz oft bis zum Zusammenbruch.


Zeitdisziplin. (Bild: Syda Productions / shutterstock.com)


Ein möglicher Ausweg: Zeitdisziplin und Selbstbeschränkung

Fakt ist: Die Anforderungen der Unternehmen werden wir vorerst nicht verändern können. Ein Umdenken in die Richtung, dass Menschen nicht nur Effizienzfaktoren und ökonomische Ressourcen, sondern eben vor allem Menschen sind, setzt in den Firmen erst allmählich ein. Der demografische Wandel und die Generation Y, die mit ihren Vorstellungen von individuellem Freiraum und Work-Life-Balance ins Arbeitsleben kommt, werden hier in den kommenden Jahren jedoch Fakten schaffen.

Bis dahin gilt: Selbstverantwortung ist auch als Mittel gegen die Überforderung des Einzelnen wichtig. Zeitdisziplin im Arbeitsumfeld ist hier nur eine Seite der Medaille – die andere besteht darin, überzogene Selbstansprüche und Perfektionismus auf ein persönlich akzeptables Mass zu reduzieren. Kurz: Wir müssen uns in unserer Arbeit und im Leben darauf besinnen, was für uns wirklich wichtig und vertretbar ist.

 

Oberstes Bild: © Anson0618 – shutterstock.com

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