Gerichtswesen Schweiz: ungenügend und dringender Reformbedarf

Wir loben die Schweiz als Rechtsstaat, haben das Gefühl, unsere Gerichte sind unabhängig, sehen mit Häme auf die Ungerechtigkeiten anderer Staaten und loben die Arbeit von Amnesty International.

Eine Analyse des Gerichtswesens Schweiz zeigt rasch Defizite und Reformbedarf.

Die Verwaltung

Die Macht der Behörden ist gewaltig. Solange man mit Ihnen nichts zu tun hat, steht man aussen vor. Ist man in den Zwängen der Verwaltung, wird es rasch ungemütlich. Was in letzter Zeit publik wurde bei KESB, ist allgegenwärtig, nur gibt es dazu zu wenig Informationen. Fakt ist, im Konfrontationsfall hat der Bürger die schlechteren Karten, nicht weil er im Unrecht ist, sondern weil alle Rechtsmittelbehörden a priori zugunsten des Staates operieren.

Wir dürfen davon ausgehen, das 80 – 90% der Verfahren korrekt abgewickelt werden, die restlichen 10 – 20% sind problematisch, weil diese nicht unabhängig und objektiv beurteilt werden. In diesem Verwaltungsapparat existiert natürlich kein Interesse, im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens Dienstkollegen zu kritisieren. Es braucht ein besonderes erhöhtes Mass an Unrecht, damit es korrigiert wird. Alles was falsch und unkorrekt ist, aber das Mass eines erheblichen Rechtsdefizites nicht erreicht, bleibt bestehen.


Die gute Arbeit von Amnesty International. (Bild: © 360b – shutterstock.com)

Gerichte

Grundproblem unserer Gerichtsbarkeit ist, dass Richter gewählt sind, und abgesehen von einer Wiederwahl in vier Jahren und der Pensionierung keinerlei Kontrolle unterstehen.

Was mangelt:

  • eine Qualitätskontrolle
  • ein Qualitätssicherungssystem
  • eine kontrollierte Weiterbildung
  • ein Erfahrungsaustausch mit anderen Gerichten
  • eine Zweitbeurteilung im Sinne der Qualitätskontrolle (Peer Review)
  • eine Aufsicht, die den Namen verdient

So ist ohne weiteres Folgendes möglich, als Beispiel im Strafverfahren, dass Richter über Beschuldigte urteilen, und es ist nicht dokumentiert:

  • ob sie die Akten gelesen haben,
  • ob sie den Sachverhalt verstanden haben,
  • ob die Richter als Spruchgremium gemeinsam ein Urteil gefällt haben,
  • ob sie, wann sie, und wie lange sie den Sachverhalt beurteilt haben,
  • ob sie eine eigene Meinung gebildet haben oder sich der Meinung des Vorsitzenden angeschlossen haben,
  • ob es eine Minderheitsmeinung gab,
  • ob sie befangen sind,

Diese Defizite sind erheblich, werden aber tel quel hingenommen. Das führt auch dazu, dass sich die nächste Instanz gar nicht damit befasst, ob das Urteil rechtsgültig zustande gekommen ist – und zwar aus zwei Gründen. Erstens wird der Entscheidungsprozess des unteren Gerichts a priori als korrekt vorausgesetzt und zweitens, wenn die zweite Instanz daran zweifeln würde, könnte sie den Entscheidungsprozess gar nicht überprüfen, weil dieser nicht dokumentiert ist. Dokumentiert sind alleine das Urteil und die Urteilsbegründung der Verfahrensleitung und des Gerichtsschreibers.


Grundproblem unserer Gerichtsbarkeit ist, dass Richter gewählt sind (Bild: © Andrey_Popov – shutterstock.com)

Die nicht geforderte Dokumentationspflicht führt dazu, dass es für die beteiligten Prozessparteien gar nicht möglich ist zu überprüfen und zu erfahren, wie und ob die Richter den Sachverhalt kennen und verstanden haben. Mangels eines kontradiktorischen Verfahrens geht dies unter. Den Prozessparteien ist es auch gar nicht erlaubt, den Richter zu fragen, ob er diesen oder jenen Sachverhalt erfasst oder verstanden hat.

Missverhältnis von Wirtschaftsleistung und Gerichtswesen

Jedes zertifizierte Unternehmen dokumentiert seine Prozesse mehr als unsere Gerichte. Wir sind stolz, eines der höchsten BIP pro Kopf auszuweisen, und unser Gerichtswesen steht dem meilenweit entfernt. So ist verständlich, dass die private Schiedsgerichtsbarkeit in der Schweiz erfolgreich ist, währendem jeder erfahrene Wirtschaftskapitän die ordentlichen Schweizer Gerichte meidet.

Der Stand der Gesetzgebung beruht auf den 50er Jahren und das Erfordernis eines modernen rechtsstaatlichen Entscheidungsprozesses ist kein politisches Thema. Die Gerichte urteilen über gesetzliche Vorgaben der Dokumentationspflicht in Berufen und Branchen, über geforderte Weiterbildung in beaufsichtigten Berufen, etc., aber eine selbstkritische Analyse, das gleiche im Gerichtswesen zu fordern, wird nicht formuliert.


Jedes zertifizierte Unternehmen dokumentiert seine Prozesse mehr als unsere Gerichte. (Bild: © Bacho – shutterstock.com)

Zu kleine Gerichtskreise

Der Kanton als Gesichtskreis ist zu klein, um ein professionelles Gerichtswesen zu etablieren. Die Grösse der meisten Kanton erlaubt nicht, einen Gerichtskörper aufzubauen, der auch komplexe Fälle beurteilen kann und eine Redundanz des Wissens schafft, welches zu einer kohärenten Rechtsprechung führt. Eine Kontrolle und Zweitmeinung kann nicht aufgebaut werden.

Gerade im kritischsten Bereich, dem Strafrecht, führt das zu Verhandlungen zulasten eines sachgerechten Urteils. Staatsanwälte, Richter, und Anwälte kennen sich und sind oft per Du und in regelmässigem gesellschaftlichem und beruflichem Kontakt. Man kennt sich ja. Wie soll da ein unabhängiges Urteil entstehen?

Anwälte unterlassen Befangenheitsanträge zu stellen, weil im nächsten Fall, vielleicht sogar noch in der gleichen Woche, sich wieder der gleiche Anwalt und der gleiche Richter gegenüberstehen. Ebenso beim Staatsanwalt, Strafrichter und Staatsanwalt sehen sich regelmässig. Die Staatsanwaltschaft liefert die Aufträge für das Strafgericht. Da ist eine natürliche Zurückhaltung in der Kritik implizit enthalten. Die notwendige Anonymität für ein unabhängiges Urteil fehlt gänzlich. Das gleiche gilt für den Instanzenweg. Die Richter der ersten Instanz und die Richter der zweiten Instanz sind Richterkollegen. Das verhindert die gesetzlich geforderte Rechtskontrolle.

Erlassbeschwerde

Das neue Gerichtsorganisationsgesetz des Kantons Basel-Stadt tritt auf 01.01.2016 in Kraft. Der Autor hat beim Bundesgericht eine Erlassbeschwerde eingereicht mit dem Ziel, die neue Gesetzgebung auf Ihre Verfassungsmässigkeit zu überprüfen. Mit der Beschwerde wird das GOG als verfassungswidriges Gesetz gerügt. Das neue GOG sieht vor, dass es keine Gerichtsverteilungspläne mehr gibt. Damit ist der Anspruch auf einen unparteiischen, unabhängigen und unvoreingenommenen Richter ohne Einwirken sachfremder Umstände nicht erfüllt und im Bereiche des Strafrechts EMRK-widrig.

Fallzuteilungen von Richtern an sich selbst werden damit weiterhin möglich sein. Sämtliche europäischen Gerichte kennen solche Pläne, Basel-Stadt nicht. Unzulässig ist auch die intransparente richterliche Ernennung. Weshalb ein Richter im Amte ist, wird nicht durch einen begründeten Entscheid mitgeteilt; in Basel ist es einfach so. In Europa und im angelsächsischen Recht ist eine formale Mitteilung gesetzlich notwendig. Weiter wird eine unterlassene Weiterbildungsverpflichtung für Richter gerügt, welche Ausfluss des Anspruchs auf ein faires Verfahren ist. Bei qualifizierten Berufen ist die Weiterbildung Standard, nicht so im Gerichtswesen. Dringt die Beschwerde durch, führt dies zu einem Totalschaden der Basler Justiz, die Gerichte werden handlungsunfähig.



Vorschläge de lege ferenda

Über ein Konkordat sollten drei Gerichtskreise Deutsche Schweiz, Französische Schweiz und Italienische Schweiz geschaffen werden.

Das Gerichtswesen ist zu professionalisieren. Weiterbildung und internationale Vergleiche sind notwendig.

Es ist eine Dokumentationspflicht zu schaffen, aus denen der Entscheidungsprozess des Gerichts nachvollziehbar wird. Im Strafrecht ist das Unmittelbarkeitsprinzip einzuführen (wie in D, UK, USA, etc.). Dies würde bedeuten, dass entscheidungsrelevante Tatsachen unmittelbar in die Verhandlung und Urteile der Gerichte einfliessen müssen.

Wir sollten uns auch grundsätzliche Gedanken machen zum Thema Gerichtswesen. Anstelle einer Vielzahl von gewählten Richtern sollte ein oberstes Gremium analog einer Regierung gewählt werden. Dieses Gremium wäre dann organisatorisch für einen Gerichtskörper zuständig. Über ein Globalbudget wäre der Auftrag „Gerichtswesen, Rechtssprechung“ zu erfüllen. Dies würde auch dazu führen, dass die Richter sich nicht als Staatsangestellte wahrnehmen, sondern als Mitglied eines Gerichts.

 

Artikel von: artax Fide Consult AG / Mitglied von Morison International / artax.ch
Artikelbild: © Mihai-Bogdan Lazar – shutterstock.com

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Mehr zu Dr. iur. Bernhard Madörin

Seit 2000 ist Dr. iur. Madörin Partner und langjähriges Mitglied des Verwaltungsrates der artax Fide Consult AG. Neben seiner Tätigkeit als Geschäftsführer hat er als Steuer- und Treuhandexperte die Gesamtverantwortung für die Bereiche Steuern, Recht und Unternehmungsberatung inne und kann heute auf rund 30 Jahre Berufserfahrung als Treuhänder und selbständiger Unternehmer zurückblicken.

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