Hilfe! Wo ist eigentlich unser Problem?

Wir haben ein Problem mit Problemen. Probleme sind etwas Schlechtes. Deshalb haben wir keine Probleme. Wenn unsere Kunden Probleme haben, so ist das gut. Nur nennen wir sie nicht so.

Wir nennen sie besser Herausforderungen. Damit wecken wir keine negativen Emotionen, sagen zumindest unsere Marketingspezialisten. Man wagt sich an Herausforderungen, aber Probleme hat man keine. Probleme haben die anderen. Die, die jammern. Nicht wir.

Das Kaninchen und die Schlange

Probleme können lähmen. Keine Frage. Wenn ein Problem lange besteht und noch keine Lösung gefunden wurde, dann liegt der Glaubenssatz nahe, das Problem sei nicht lösbar. Im persönlichen Bereich kann dies zu schweren Krisen führen. Organisationen sind leidensfähiger, besonders wenn sie gross sind. Man arrangiert sich mit Problemen. Wer weiss, was auf einen zukommt, wenn man weiter vergeblich nach einer Lösung sucht?

Treibstoff für Veränderung

Vor ein paar Wochen habe ich einen Erfahrungsbericht zur Einführung von Prozessmanagement in einem mittelständischen Unternehmen verfolgt. Man hatte alle Massnahmen zur Erreichung des angestrebten Reifegrades erfolgreich umgesetzt. Das Thema Prozessmanagement wurde von der Belegschaft jedoch ignoriert. Als Konsequenz kaufte sich das Unternehmen professionelle Unterstützung von erfahrenen Beratern ein, um in der Belegschaft das Bewusstsein für Prozessmanagement zu schärfen. Die Berater wiesen darauf hin, wie wichtig es sei, den eigenen Reifegrad zu kennen und diesen zu verbessern. Es wurde jedoch nicht erklärt, welches Problem durch einen höheren Reifegrad gelöst werden sollte. Statt konkreter Umstände dieses Unternehmens wurden nur allgemeine Vorteile diskutiert.



Ich kann die Belegschaft gut verstehen. Sie konnte kein Problem erkennen. Weshalb sollte sie das Wagnis einer Veränderung auf sich nehmen? Wirft man einen Blick auf den Acht-Stufen-Plan der Veränderung nach Kotter, so erkennt man, dass in diesem Fall versucht wurde, schon die erste Stufe der Veränderung zu überspringen, nämlich Bewusstsein für den Veränderungsbedarf zu schaffen. Durch reine Nutzenargumente ist dies meiner Erfahrung nach nicht möglich. Nutzen wird oft und viel versprochen. Um einen wirklichen Bedarf zu erkennen, braucht es mehr.


TIPP: Sprechen Sie die Probleme offensiv und klar an, die durch ein Projekt gelöst werden sollen, damit ihre Mitarbeitern auch der Veränderungsbedarf erkennen. Nutzenargumente reichen nicht.

Ich möchte eine provokante These in den Raum stellen: Ab einer gewissen Grössenordnung bewegt sich in Organisationen nichts, ohne dass ein relevantes Problem vorliegt! Versteckt sich nicht hinter den meisten Visionen von Unternehmen in Wirklichkeit ein Problem? Das Problem, nicht so weiter machen zu können wie bisher? Wenn dem so ist, müssen wir dann den Problemen nicht mehr Bedeutung schenken? Uns zumindest klarer über sie verständigen?

Der Fisch stinkt vom Kopf

Ziele sind elementar wichtig für jedes Projekt. Ein Projekt ohne klare Ziele kann nur schief gehen. Dies ist weitgehend bekannt und wird auch häufig berücksichtigt, zumindest formal. Die Frage, wozu gerade diese Ziele gesetzt wurden und nicht andere (im Anforderungsmanagement würde man von der Rationale sprechen), bleibt meistens unbeantwortet. Passen die Ziele überhaupt zueinander? Oder leiten die Ziele in verschiedene Richtungen?

Hier hilft es, die Probleme zu betrachten. Denn sie sind die Ursache für die Projektziele. Leider ist dies nicht einfach. Probleme werden meist nur indirekt wahrgenommen: über ihre Symptome. Probleme verursachen bei uns so etwas wie „Schmerzen“. Diese Schmerzen sind subjektiv. Bei jedem kann sich das Problem anders äussern. Oft hängt dies von der Rolle im Unternehmen ab. Was der einen Gruppe Sorgen bereitet, kann die andere freuen.


TIPP: Ziele fallen nicht vom Himmel. Sie entstehen aus einer bestimmten Situation heraus. Nur wenn diese Situation bekannt und verstanden ist, können auch die Ziele verstanden werden.

Das Schmerzempfinden hängt auch von der individuellen Persönlichkeit ab. Was für den einen sehr unangenehm ist, kann für jemanden mit einer anderen Veranlagung neutral oder sogar positiv sein. Wir sind nun einmal alle unterschiedlich. Einer arbeitet gerne streng nach Vorschrift, ein anderer bevorzugt es, flexibel agieren zu können. Deshalb sollte man über Schmerzen nicht diskutieren. Man kann sie nur neutral und respektvoll aufnehmen. Es hilft nicht, nach einem allgemein gültigen Schmerz zu suchen. Anders verhält es sich bei den Problemen. Diese müssen objektiv und klar herausgearbeitet werden. Denn ausgehend von den Problemen werden Lösungen entwickelt.


TIPP: Lassen Sie bei den Symptomen von Problemen Subjektivität zu. Versuchen Sie nichts wegzudiskutieren oder zu verallgemeinern. Erst wenn es an die Ursache für die Symptome geht, ist Objektivität gefragt.

Das ist alles viel zu kompliziert

Probleme sind oft komplex. Genauer gesagt, die Systeme sind komplex, in denen die Probleme auftreten. Für ein gemeinsames Problemverständnis braucht es ein gemeinsames Systemverständnis, also ein gemeinsames Verständnis der Organisation, der Prozesse, der Technik, aber auch der Menschen, die als System zusammenwirken. Daran fehlt es meist. Unglücklicherweise sind diese Systeme meist so beschrieben, dass sie nur mit hohem Aufwand und auch nur den Spezialisten mit Vorkenntnissen verständlich sind. Ein klar strukturierter und aussagekräftiger Gesamtüberblick, der auch Nicht-Spezialisten eine Einsicht vermittelt, fehlt meist. Oder haben Sie schon einmal einen Bauplan eines Unternehmens gesehen, auf dem man erkennen kann, wie die unterschiedlichen Prozesse im Unternehmen zusammen wirken?


TIPP: Auf die Schilderung eines Problems und aller daraus abgeleiteten Ziele und Anforderungen können Sie sich nur verlassen, wenn das System, in dem sich das Problem äussert, einheitlich verstanden wurde. Sorgen Sie stets für ein gemeinsames Verständnis bei allen Beteiligten.

Wer ohne Schuld ist …

Es fällt schwer, Probleme sachlich und neutral zu betrachten. Deshalb wird bei Problemen gerne nach einem Schuldigen gesucht. Die Suche nach Schuld ist jedoch immer rückwärtsgewandt und kein Schritt in Richtung einer Lösung. Meist blockiert sie sogar die Lösungsfindung.

Anders verhält es sich mit den Ursachen von Problemen. Diese dürfen jedoch nicht isoliert betrachtet werden, sondern müssen immer in einem Gesamtkontext gesehen werden. Die Ursache des einen Problems kann schliesslich Teil der Lösung für ein anderes Problem sein. Bei der Betrachtung der Ursachen ist somit auch wiederum ein klares Systemverständnis von Nöten.


TIPP: Wenn Sie die Ursachen von Problemen analysieren, betrachten Sie auch, wie sich diese Ursachen in anderen Bereichen auswirken.

Die Wurzel eines Problems aufzudecken, kann eine echte Herausforderung sein. (Bild: © Fablok – Shutterstock)

Das Problem an der Wurzel packen

Wenn Sie im Internet nach „Scheitern“ und „Projekte“ suchen, werden Sie viele Seiten finden, auf denen die wichtigsten Ursachen für das Scheitern aufgelistet sind. Eine Ursache wird immer genannt: unklare Zielvorgaben oder schlechte Anforderungen. Wenn diese Ursache schon seit Jahren besteht, muss man sich fragen, wieso sich daran nichts ändert. Liegt es an der Formulierung der Anforderungen oder dem unorganisierten Umgang mit den Anforderungen? Oder liegt die Wurzel des Übels dort, wo die Anforderungen entstehen: in den Köpfen von Menschen?

Wenn Menschen das Problem, das sie gemeinsam in einem Projekt lösen sollen, unterschiedlich oder falsch verstehen, muss dann die Qualität ihrer Anforderungen nicht Mängel aufweisen? Wenn dem so ist, dann sollten wir auch an dieser Stelle ansetzen, um den Erfolg von Projekten zu verbessern: bei der offenen und sachlichen Betrachtung der Probleme. Auch wenn es manchmal unangenehm ist und der ein oder andere dort nicht so genau hinschauen möchte.

 

Oberstes Bild: © KieferPix – Shutterstock

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Mehr zu Dr. Andreas Bungert

Andreas Bungert befasst sich seit über 25 Jahren damit, Menschen komplex vernetzte Systeme verständlich zu machen. Er ist Dr.-Ing. der Elektrotechnik, hat bei SAP die Software der SAP R/3 Basis mit grafischen Bauplänen visualisiert und dieses systemische Denken später auf die Welt der Geschäftsprozesse übertragen. Er war Gründer und Vorstand des ersten Spin-offs des Hasso-Plattner-Instituts, arbeitet seit 2011 als selbstständiger Berater und hat sich 2012 zum systemischen Coach ausbilden lassen. Andreas Bungert hilft Unternehmen, bei der Digitalisierung ihrer Geschäftsvorgänge die Komplexität der Vernetzung von Technik, Prozessen und Menschen zu meistern.

Webseite: www.bungert.berlin

XING: xing.to/Andreas_Bungert

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