Diesen Wirtschaftsproblemen muss sich Grossbritannien jetzt stellen

Bereits wenige Tage nach der Wahl kann die britische Regierung zur Tagesordnung übergehen. Am Montag hat Premierminister David Cameron sein neues Kabinett benannt. In der laufenden Legislaturperiode können die Konservativen allein regieren. Auch die Vertreter der britischen Wirtschaft haben mehrheitlich den Wahlausgang begrüsst.

In den Medien geht es derzeit vor allem um das Verhältnis des Vereinigten Königreichs zur Europäischen Union. Das Referendum über die EU-Mitgliedschaft soll möglichst schon 2016 kommen, also ein Jahr früher als geplant. Ob Grossbritannien seine Sonderrolle in der EU zuvor durch entsprechende Verhandlungsergebnisse stärken kann, ist bisher nicht ausgemacht.

Ein neues Unabhängigkeits-Referendum für Schottland hat Cameron zwar ausgeschlossen, aus den Wahlen sind die schottischen Nationalisten allerdings gestärkt hervorgegangen. Eine Frage ist jedoch auch vor welchen wirtschaftlichen Problemen Grossbritannien in den nächsten Jahren steht. Aus Sicht vieler Experten hat „die Insel“ ein Produktivitätsproblem, gegen das zumindest aus Sicht der Europäer vor allem staatlich gelenkte Strukturreformen helfen würden.

Grossbritanniens Wirtschaft wächst unter den Industrienationen am schnellsten 

Auf den ersten Blick sind nicht nur das britische Pfund und die Londoner Börse, sondern auch die Wirtschaft des Vereinigten Königreiches auf dem Höhenflug. In den Wochen vor der Wahl hat das britische Statistikamt seine Wirtschaftsdaten für 2014 nach oben korrigiert, demnach ist die britische Wirtschaft im vergangenen Jahr nicht um 2,6, sondern um 2,8 Prozent gewachsen. Für das laufende Jahr wird ein Wirtschaftswachstum von 3,2 Prozent erwartet. Unter den Industriestaaten zeigt Grossbritannien damit die mit Abstand grössten Wachstumsraten. Die Arbeitslosenquote liegt unter sechs Prozent – mit fallender Tendenz und gekoppelt mit einem allenfalls moderaten Anstieg der Löhne und Gehälter. Die Investitionen britischer Unternehmen sind in den vergangenen Jahren mit Raten im zweistelligen Bereich gestiegen. Eine GfK-Studie weist aus, dass die Kauflust der britischen Konsumenten zuletzt vor zwölf Jahren so gut gewesen ist wie heute, was unter anderem in steigenden Realeinkommen durch die derzeitige Null-Inflation begründet liegt. Die Bank of England sieht anders als der Rest Europas in diesem Stand der Teuerung keine Deflationsgefahr. Die niedrigen Rohstoffpreise, die ihm zugrunde liegen, wirken aus Sicht der Notenbanker vielmehr als wirtschaftlicher Stimulus.

Die Kehrseite: Investitionsrückgänge, hohe Aussenhandels- und Haushaltsdefizite

Die Kehrseite der Medaille: Im vierten Quartal 2014 sind die Investitionen erstmals seit längerer Zeit zurückgegangen. Das britische Aussenhandelsdefizit lag zum Jahreswechsel bei -5,5 Prozent und damit auf einem Niveau, das es seit 1948 nicht gegeben hat. Die Staatsverschuldung Grossbritanniens kann sich durchaus mit den Haushaltsdefiziten diverser europäischer Krisenländer messen. Der aktuelle Aufschwung und auch die Wachstumsprognosen werden vor allem durch den Dienstleistungssektor getrieben. Als problematisch erweist sich auch das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf, das im letzten Jahr nur um 2,2 Prozent und damit langsamer als die Gesamtwirtschaft gewachsen ist. Das Vorkrisenniveau hat es damit noch nicht wieder erreicht. Gleichzeitig ist es ein Indikator dafür, dass längst nicht alle Briten vom Wirtschaftsaufschwung profitieren.


Die Arbeitsproduktivität in Grossbritannien ist im internationalen Vergleich niedrig. (Bild: © anekoho – shutterstock.com)

Das Grundproblem: im internationalen Vergleich niedrige Arbeitsproduktivität

Vor allem im Hinblick auf den letzten Faktor wirkt sich die im internationalen Vergleich niedrige Arbeitsproduktivität Grossbritanniens aus. Die Produktivität pro Person sowie pro Arbeitsstunde stagniert seit der Finanz- und Wirtschaftskrise. Sie ist um 17 Prozent niedriger als der Durchschnitt der anderen grossen Industrienationen, wobei sich unter diesen vor allem die USA als Produktivitätstreiber erweisen. Unter den weitaus meisten Ökonomen herrscht Einigkeit darüber, dass die mangelnde Arbeitsproduktivität das grösste wirtschaftlich Problem Grossbritanniens ist. Ein Produktivitätszuwachs würde das Haushaltsdefizit zum Schmelzen bringen und durch höhere Reallöhne auch den Lebensstandard vieler Briten steigern. Im Wahlkampf und in den politischen Programmen der Parteien spielte dieses Thema – im Gegensatz zu Steuerfragen, der Ausgabendisziplin des Staates oder Subventionen für junge Eigenheimkäufer – jedoch nur eine sehr marginale Rolle.

„Produktivitätsrätsel Grossbritannien“

An der Frage, warum die Arbeitsproduktivität der Briten niedrig ist, scheiden sich die Geister. Einige Wirtschaftswissenschaftler meinen, dass es sich um eine „zyklische Schwäche“ handelt, die mit der letzten Rezession verbunden ist. Angesichts der aktuellen Konjunkturentwicklung klingt diese These allerdings eher unwahrscheinlich. Dramatischer lesen sich Szenarien, die darauf abstellen, dass die Arbeitsproduktivität in Grossbritannien dabei ist, dauerhaft zu sinken. Die Unternehmen würden also zumindest der Tendenz nach Kapitalinvestitionen und Innovation durch menschliche Arbeitskraft ersetzen – dagegen spricht allerdings die intensive Investitionstätigkeit in Grossbritannien. Ein weiterer – ebenfalls nicht sehr schlüssiger – Erklärungsansatz läuft darauf hinaus, dass die britischen Banken Unternehmenskredite deutlich zögerlicher vergeben als vor der Krise und dabei traditionellen Firmen gegenüber innovativen Start-ups den Vorzug geben. Unter Ökonomen ist daher immer wieder vom „britischen Produktivitätsrätsel“ die Rede. Reale Einflussfaktoren dürften vor allem das Wachstum der Dienstleistungsbranchen und das „relative Schattendasein“ des produktiven Sektors sein, der vor der Krise das Wachstum der Arbeitsproduktivität getrieben hatte.

Grösseres staatliches Engagement versus „Thatcherismus“?

Für eine nachhaltige Lösung und ein langfristiges Produktivitätswachstum wäre aus Sicht vieler Wirtschaftswissenschaftler auch der Staat stärker gefragt. Die gezielte Förderung von KMUs sowie generell von Innovation, Forschung und Entwicklung würde hier ebenso eine Rolle spielen wie staatliche Infrastrukturinvestitionen oder Anreize für mehr Wettbewerb im Bankensektor. Für die bisherige Londoner Regierungskoalition aus Konservativen und Liberaldemokraten spielten solche Ansätze jedoch keine Rolle. Im Kern haben sie auf das Modell gesetzt, das die britische Volkswirtschaft seit den 1980er Jahren und den Reformen Margaret Thatchers prägt. Im Kern geht es dabei sowohl im Hinblick auf den Waren- als auch auf den Arbeitsmarkt um ein absolutes Minimum an staatlicher Regulation – inklusive geringer staatlicher Investitionen.


David Cameron hat Pläne, wie err die wirtschaftlichen Herausforderungen angehen möchte.
David Cameron hat Pläne, wie err die wirtschaftlichen Herausforderungen angehen möchte. (Bild: © Drop of Light – shutterstock.com)

David Cameron will die britische Staatsquote weiter senken

Eine Änderung dieser Strategie wird es auch unter der neuen konservativen Regierung nicht geben. David Cameron hat sich zum Ziel gesetzt, die Staatsquote in der aktuellen Legislaturperiode auf 34 Prozent zu reduzieren. Die Staatsquote zeigt das Verhältnis der Staatsausgaben zum BIP.

In den vergangenen Jahren ist sie in Grossbritannien von 45 Prozent auf etwa 40 Prozent gesunken. Zum Vergleich: In der Euro-Zone lag die Staatsquote im Jahr 2013 bei 49,4 Prozent, in den USA im vergangenen Jahr bei knapp 37,4 Prozent – mit seit Jahren wieder fallender Tendenz. In den Vorkrisenjahren 2004 bis 2006 hatte die US-amerikanische Staatsquote bei maximal 35 Prozent gelegen. Der deutsche Wirtschaftsjournalist Wolfgang Münchau schreibt, dass Grossbritannien auf einem Weg sei, an dessen Ende es den USA ähnlicher sein dürfte als dem vereinigten Europa. Staatliche Einflussnahmen auf die Produktivitätsentwicklung sind hierdurch weitgehend ausgeschlossen.

Das Schweizer Beispiel: Eine hohe Staatsquote ist kein Allheilmittel

Allerdings stellt sich hier auch die Frage, inwieweit die hohe europäische Staatsquote richtungweisend ist – das dies nicht so sein muss, zeigt das Schweizer Beispiel. Die Staatsquote der Schweiz hat sich seit 2007 um einen Wert von 33 Prozent eingependelt, anders als die USA hat die Eidgenossenschaft ihre Strategie einer möglichst geringen staatlichen Einflussnahme auf die Volkswirtschaft auch in den Krisenjahren nicht geändert. Probleme für die Wirtschaftskraft, den Arbeitsmarkt oder die Sozialstandards der Eidgenossenschaft waren damit bisher nicht verbunden. Die Schweizer Wirtschaft prosperiert. Die – hierzulande eher moderaten – Krisenfolgen hat sie schnell hinter sich gelassen, auch der Frankenschock hat bisher zu keinen grundsätzlichen Einbrüchen geführt. Spannend aus einer wirtschaftswissenschaftlichen Perspektive ist, dass auch die Schweiz an einer vergleichsweise geringen Arbeitsproduktivität laboriert, ohne dass ihre generelle ökonomische Leistungskraft darunter leidet. Auch die Antwort der Briten könnte demnächst lauten, dass ein hoher Grad des staatlichen Engagements in der Wirtschaft – und damit das EU-Konzept – keine Allheilmittel sind.

 

Oberstes Bild: © PHOTOCREO Michal Bednarek – shutterstock.com

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