Grossbritannien hat gewählt: Kommt nun der „Brexit“?

Am vergangenen Donnerstag haben die Briten ein neues Parlament gewählt. Premierminister Cameron und seine Konservativen können triumphieren – im britischen Unterhaus haben sie in den kommenden fünf Jahren die absolute Mehrheit. Innen- und aussenpolitisch stehen jedoch Veränderungen an. Schlüsselthemen sind das Verhältnis zu Europa und die Perspektiven Schottlands.

Die Glückwünsche aus Brüssel für David Cameron fielen gestern recht knapp und trocken aus. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker liess ausrichten, dass er auf eine „konstruktive Zusammenarbeit“ und einen „fairen Deal“ mit Grossbritannien hoffe. Gleichzeitig stellte er heraus, dass die vier Grundfreiheiten der Europäischen Union – der freie Verkehr von Personen, Dienstleistungen, Kapital und Waren – in ihrer Substanz nicht zur Debatte stünden. Zu Camerons Wahlversprechen ergeben sich hieraus perspektivisch Diskrepanzen.

Dieser Artikel ist Teil der zweiteiligen Serie „Grossbritannien nach Camerons Wiederwahl“:

Teil 1: Grossbritannien hat gewählt: Kommt nun der „Brexit“?

Teil 2: Diesen Wirtschaftsproblemen muss sich Grossbritannien jetzt stellen.

Camerons will Grundsatzverhandlungen mit der EU

Cameron will das Verhältnis des Vereinigten Königreichs zur Europäischen Gemeinschaft grundsätzlich neu verhandeln, obwohl für die Briten sehr jeher Sonderregelungen – unter anderem Rabatte bei den Beitragszahlungen sowie spezielle Vereinbarungen bei der Haushaltsüberwachung, der Justizzusammenarbeit und bei der Reisefreiheit – gelten. Für weiterführende Forderungen dürfte es kaum Spielraum geben, genau darum aber geht es Cameron. Auf der britischen Agenda steht unter anderem die Beschränkung der Niederlassungsfreiheit von EU-Arbeitnehmern durch einen limitierten Zugang zum britischen Sozialsystem, im Kern jedoch der Grad der europäischen Integration als Ganzes. Grossbritannien könnte beispielsweise EU-Reformen zur Förderung der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit oder grössere Autonomie der nationalen Parlamente fordern. Ein weiterer möglicher Verhandlungspunkt sind institutionelle Mitspracherechte bei der weiteren Entwicklung der Euro-Zone – Grossbritannien ist kein Mitglied der Währungsunion, muss jedoch mit dem Einfluss der Euro-Länder auf seine eigene Wirtschaft rechnen.

Die Briten sind traditionell europaskeptisch, seit dem EU-Beitritt des Landes im Jahr 1973 hat sich daran nichts geändert. In den vergangenen Jahren wurden die Rufe der Briten nach dem „Brexit“ – dem Austritt aus der Europäischen Union – immer lauter. Die europakritische Partei UKIP erhält aufgrund des Mehrheitswahlrechts nur einen Sitz im Unterhaus, mit einem Stimmenanteil von knapp 13 Prozent ist sie jedoch die drittstärkste politische Kraft im Land. Auch die Europa-Skeptiker in der eigenen Partei kann Cameron nicht ohne weiteres ignorieren. Zudem wird es nach dem Wahldebakel der Liberalen in der britischen Regierung keinen europafreundlichen Gegenpart mehr geben.


Ergebnis der Unterhauswahl in Grossbritanien vom 7. Mai 2015. (Bild: Italay90, Wikimedia, CC)

Wahlergebnis eine Niederlage für Europa?

Nach Camerons Wahlsieg wird das Referendum zum Verbleib in der EU auf alle Fälle kommen – möglicherweise auch schon vor dem bisher anvisierten Termin im Jahr 2017. Aus Brüssel war bereits zu hören, dass das britische Wahlergebnis eine „Niederlage“ für Europa sei. Wenn es Cameron nicht gelingt, die Wähler durch entsprechende Verhandlungsergebnisse mit der EU zu überzeugen, könnte sich der „Brexit“ in absehbarer Zeit als ein sehr reales Szenario erweisen. Das Versprechen eines Referendums über die EU-Mitgliedschaft Grossbritanniens hatte Cameron bereits 2013 abgegeben, um der UKIP und den Europa-Kritikern aus den eigenen Reihen das Wasser abzugraben. Die Zeit bis zum Urnengang wird nun sowohl für die Regierung als auch für die Wirtschaft schwierig. Ein investitionsfreundliches Klima wird aus der Unsicherheit im Hinblick auf den Wählerwillen nicht entstehen. Absehbar ist, dass die britische Unternehmerschaft in dieser Frage tief gespalten ist. Unter anderem machen Exporte in die EU etwa die Hälfte des britischen Aussenhandels aus, nach einem „Brexit“ dürften sie deutlich teurer werden.

 Das kostet GB ein radikaler Bruch mit der EU

Die Kosten des EU-Austritts lassen sich durch Schätzungen allerdings nur schwer beziffern. Sicher ist lediglich, dass die öffentlichen Haushalte mit einem immensen Finanzschub rechnen können, die britischen Zahlungen an die EU beliefen sich im Jahr 2013 auf 8,6 Milliarden Euro. Die deutsche Bertelsmann-Stiftung hat Kalkulationen für verschiedene Szenarien aufgestellt: Bei einem „weichen“ Austritt würde das britische Bruttoinlandsprodukt (BIP) bis zum Jahr 2030 demnach um 0,6 Prozent schrumpfen. Das Verhältnis Grossbritanniens zur EU liesse sich in diesem Fall analog zur Schweiz durch bilaterale Verträge regeln. Alternativ könnte das Vereinigte Königreich nach dem Ende der EU-Zugehörigkeit ebenso wie Norwegen oder Liechtenstein ein Mitglied des Europäischen Wirtschaftsraumes (EWR) bleiben. Aus einem abrupten Bruch mit der EU würde sich dagegen ein BIP-Rückgang von knapp drei Prozent ergeben. Die Wirtschaftswissenschaftler der London School of Economics kommen zu ähnlichen Zahlen, die im Vergleich zur den Berechnungen der Stiftung jedoch etwas höher liegen. Dagegen hielten sich die wirtschaftlichen Folgen für die Europäische Union in Grenzen.

Die EU würde ein aussenpolitisches Schwergewicht verlieren

Die politischen Folgen für die EU im Falle eines „Brexits“, aber auch eines Verhandlungserfolgs der Briten sind allerdings unabsehbar. Falls die Europäische Gemeinschaft die Wünsche Grossbritanniens akzeptiert, könnte dies Türen für die Reformwünsche anderer Mitgliedsstaaten öffnen, möglicherweise könnten deren Bürger eigene Referenden fordern. Falls es zum „Brexit“ kommt, verliert die Europäische Union ein aussenpolitisches Schwergewicht – das Vereinigte Königreich hat weder seine eigene Währung aufgegeben noch das Schengen-Abkommen unterzeichnet, innerhalb der EU gilt es als ein Anker für liberale Länder, die sich auf die Entwicklung ihres Binnenmarktes fokussieren.



Grossbritanniens Alternativen zur EU

Um eine Debatte der britischen Forderungen kommt Europa daher nicht herum. Leicht werden die Verhandlungen jedoch für beide Seiten nicht: Brüssel kann sich nicht erlauben, den europäischen Integrationsgedanken ernsthaft zu beschneiden – dies könnte den Anfang vom Ende der EU in ihrer heutigen Form bedeuten. Cameron muss bei seinen Wählern – mit dem Ausblick auf das Referendum – dagegen mit Verhandlungserfolgen punkten. Für die Briten gäbe es durchaus Alternativen zur EU. Eine mögliche Vorlage dafür bildet das Commonwealth of Nations, das heute als loser Verbund Grossbritanniens und 52 ehemaliger britischer Kolonien – darunter Australien, Kanada und Indien – agiert. Seit Mitte der 1990er Jahre steht der Beitritt auch Ländern offen, die nicht zum früheren britischen Empire gehörten. Eine stärkere ökonomische und politische Integration des Commonwealth oder auch eines Teils seiner Mitgliedsstaaten wäre zwar ein sehr langfristiges Projekt, könnte die Rolle Grossbritanniens jedoch im globalen Massstab stärken.

EU-Mitgliedschaft könnte Schottland-Frage entscheiden

Das künftige Verhältnis Grossbritanniens zur EU könnte auch in der Schottland-Frage eine Rolle spielen. Die Schotten gelten traditionell als EU-freundlicher als der Rest der Insel. Mit der Abstimmung über die schottische Unabhängigkeit im vergangenen Jahr ist die Frage einer Sezession keineswegs vom Tisch, die britische Regierung wird in den kommenden Jahren auch eine Antwort auf die Frage finden müssen, wieviel Autonomie sie dem Norden geben will. Das Referendum über die EU-Mitgliedschaft könnte der schottischen Unabhängigkeitsbewegung durchaus wieder Auftrieb stehen und sein Ergebnis das „Zünglein an der Waage“ sein. Als mögliches Resultat ist auch ein Worst-Case-Szenario nicht ausgeschlossen: Das Vereinigte Königreich verlässt die Europäische Gemeinschaft und wird politisch aufgespalten.

 

Oberstes Bild: © Valsts kanceleja, Wikimedia, CC

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