Kommen Sie raus aus der Schublade!

„Wer ist am Telefon? Der Meier? Dieser Querulant! Der macht doch nur Probleme!“ Und, oh Wunder: Kaum nimmt man den Hörer in die Hand macht der Meier tatsächlich – was? Probleme. Daran ist nicht der Meier schuld.

Sondern die sogenannte Self-Fulfilling Prophecy, die sich selbst erfüllende Vorhersage. Warum erfüllt sich eine Vorhersage bloss deshalb, weil sie gemacht wird? Weil der Meier nicht von gestern ist. Er merkt schnell, dass wir voreingenommen sind – und reagiert pikiert. Wenn man Ihnen so voreingenommen begegnen würde, würden Sie sicher auch Probleme machen. Trotzdem hält uns das nicht davon ab, wie Kassandra wild orakelnd durch den Alltag zu stolpern.

Das Kassandra-Syndrom

Kassandra, die Gestalt aus der klassischen griechischen Sagenwelt, malte so lange den Untergang Trojas an die Wand, bis Troja tatsächlich fiel. Man muss anderen Menschen nur lange oder intensiv genug das eigene Vorurteil unterbuttern, dann tun sie einem irgendwann tatsächlich den Gefallen. Warum ist dieses Syndrom so verbreitet? Weil es uns unbewusst ein gutes Gefühl gibt, allwissend zu sein. Sogar wenn wir wildfremden Menschen zum ersten Mal in der Fussgängerzone begegnen, stecken wir sie zuverlässig in die passende Schublade: Anzug und Krawatte? Geldgeiler Manager. Lennon-Brille? Verspäteter Hippie. Blond? Arrogant. Weil wir so genau wissen wie die Menschen wirklich sind, behandeln wir sie entsprechend – et voilà – prompt verhalten sie sich so wie wir sie behandeln. Man muss das nur lange genug machen, dann verwandelt man selbst den lammfrommsten Zeitgenossen in einen wutschnaubenden Berserker. Gutes Rezept? Übles Rezept.

Kassandras Lohn

Denn die Leidtragenden sind natürlich wir selbst: An wem lässt der Berserker denn wohl seine Wut aus? Wem macht der Meier am Telefon denn die Probleme? Und bloss deshalb, weil Kassandra ihn schon wieder in eine Schublade gesteckt hat? Deshalb lautet der spontane Imperativ für eine Kommunikation, mit der man sich nicht selbst das Leben schwer macht: Kein Schubladendenken! Genauer: Versuchen Sie so lange wie nur irgend möglich, den Gesprächspartner nicht in die Schublade zu stecken. Das ist ein simples Rezept mit oft verblüffender Wirkung.

Verblüffende Wirkung

Ich erinnere mich an eine Managerin, die seit Monaten schlimme Probleme mit ihrer Vorgesetzten hatte. Sie klagte: „Wenn die auch nur die Nase zu meiner Bürotür reinsteckt, denke ich: Nicht diese erbsenzählende Bremserin schon wieder!“ Die einzige Empfehlung der ersten Coaching-Sitzung lautete: „Versuchen Sie, diesen Schubladen-Gedanken im Gespräch so lange wie möglich zu vermeiden und stattdessen Ihre Meinung und damit das Gespräch offen zu halten.“ Bereits das erste Gespräch danach verlief komplett anders als die vorhergehenden. Die Managerin warf ihrer Vorgesetzten nicht ständig nonverbal vor: „Sie bremsen doch nur!“ Und die Vorgesetzte musste sich nicht vehement gegen diesen impliziten Vorwurf wehren. Die Gespräche eskalieren seither nicht mehr. Aber die Vorgesetzte bremst doch tatsächlich?

Sind Sie sicher?



Die versteckte Intention

Der Mensch braucht einen Grund zum Leben. Und wenn es nicht „Die Bremserei“ ist – was ist es dann? Genau das konnte die Managerin herausfinden, als sie zum ersten Mal die Schublade wegliess. Sie fragte sich: „Wenn meine Chefin nicht bremst – wozu macht sie dann das, was sie macht?“ Genau das versuchte sie dann im Gespräch herauszufinden. Als sie ihrer Chefin offen und vorbehaltlos (keine Schublade!) zuhörte und gelegentlich nachfragte, stellte sie schnell fest: Sie „bremst“ nicht, sondern spricht Risiken an, die ihr Sicherheitsbedürfnis bedrohen. Manchmal „bremst“ sie auch nicht, sondern möchte bloss zeigen, dass sie über grosse Erfahrung verfügt. Und oft „bremst“ sie nicht, sondern kommentiert lediglich eine Aussage der Managerin, die diesen Kommentar dann als „Bremsen“ missversteht. Würdigt die Managerin diese versteckten Absichten ihrer Chefin, wird diese „lammfromm“ – weil sie bekommt, was sie mit ihrer Absicht verfolgt: die Bestätigung ihrer versteckten Absichten. Wer Menschen voreilig in Schubladen steckt, verweigert ihnen genau das, was die Gespräche immer eskaliert. Aber es ist doch so verführerisch, Menschen vorschnell abzustempeln? Vor allem, wenn man sie schon lange kennt?

Mut ist überbewertet

Neulich meinte ein Manager: „Es gehört schon viel Mut dazu, einem ständigen Nörgler unvoreingenommen zu begegnen!“ Das würde ich nicht sagen. Wer es sich tatsächlich ernsthaft vornimmt, erkennt rasch: Nicht Mut, sondern Übung macht den Meister. Das perfekte Übungsfeld ist zum Beispiel die Ehe oder die Familie. Was wird da geschubladet! „Ach du immer mit deinem Ordnungswahn!“ – „Und du mit deiner ewigen Schlamperei!“ Wir wissen, wie solche Ouvertüren enden: im Showdown. Ganz anders verläuft das Gespräch mit einer offenen Erwartungshaltung: „Wenn es kein Ordnungswahn ist, was ist es dann? Was bringt es ihr, wenn die Zahnpasta von unten ausgedrückt wird?“ Das herauszufinden könnte interessant werden (wenn man sich eingesteht, dass man zehn Jahre mit jemandem verheiratet sein kann, ohne zu wissen, warum er/sie die Tube so drückt wie er/sie drückt). Und interessant ist immer besser als konfrontativ, antagonistisch oder eskalierend. Warum entscheiden sich so wenige Menschen dafür?


Stereotypen zu überwinden ist eine Herausforderung in der Kommunikation – aber es lohnt sich, sie anzunehmen. (Bild: © iQoncept – shutterstock.com)

Der Totschlag-Reflex

Wenn ich angegriffen werde, schlage ich zurück. Das ist ein mehrere hunderttausende Jahre alter Reflex. Und alles, was nicht so ist wie ich, empfinde ich als Angriff. Hinter diesem Reflex steht eine reale Angst: „Wenn ich mich nicht wehre, verliere ich! Dann werde ich untergebuttert!“ Weil wir so fühlen, empfinden wir die eigentlich als tugendhaft gepriesene Unvoreingenommenheit oft als Schwäche und verwechseln sie häufig mit Nachgiebigkeit und Verwundbarkeit: „Wenn ich dem anderen offen zuhöre, haut der mich in die Pfanne!“ Tut er das? Ja. Wenn ich mich nicht abgrenzen kann. Man kann aber sehr wohl jemandem offen zuhören – und nicht seiner Meinung sein. Jeder Erwachsene kann sagen: „Ich verstehe nun, warum du die Zahnpasta-Tube von unten ausgedrückt sehen möchtest. Ich respektiere deine Meinung. Ich habe eine andere Meinung. Wie bringen wir beide Meinungen zusammen, ohne dass einer von uns etwas tun muss, was er nicht möchte?“

So redet kein Mensch?

So redet kein Mensch!

Fataler Irrtum. So reden die, die beides wollen und beides kriegen: grossen Erfolg und intakte Beziehungen. Das gibt es. Und das ist nur gerecht. Denn das ist der Lohn dafür, dass man sich aus der Schublade befreit.

 

Titelbild: © Michael D Brown – shutterstock.com

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Mehr zu Matthias Wölkner

Matthias Wölkner macht Manager, Unternehmer, Führungskräfte und ihre Mitarbeiter sozusagen „Olympia-fit“, indem er sie in die Kunst der Gelassenheit und Souveränität einweist. Früher selber Topmanager auf Geschäftsführungsebene ist er heute der Coach, der den Menschen und Organisationen hilft, Dauerhöchstleistung zu bringen, ohne vor die Wand zu fahren.

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