Boreout - diskretes Leiden in der Firma

Herr W. hat ein Problem – er langweilt sich, und zwar acht Stunden täglich, fünf Tage in der Woche. Für seine ereignislosen Arbeitsstunden bezieht Herr W. zwar das komfortable Gehalt einer Führungskraft, seine Aufgaben sind jedoch gegen Null geschrumpft. Der Hintergrund: Die Entwicklungsabteilung eines Kommunikationstechnologie-Unternehmens, die er zehn Jahre lang geleitet hat, fiel einer Umstrukturierungsmassnahme zum Opfer.

Herrn W. wurde im Unternehmen zwar eine andere Stelle angeboten. Als Trendanalytiker in einem neuen Team hatte er jedoch weder Führungsverantwortung noch besonders viel zu tun, unter seinen Kollegen blieb der versierte Techniker ein Aussenseiter. Sein Fazit aus der Konstellation hiess irgendwann, dass er an seinem Arbeitsplatz schlicht nicht mehr gebraucht wird. Obwohl er sich selbst bisher als einen sehr optimistischen Menschen ansah, fand er sich nach etwas mehr als einem halben Jahr wegen Depressionen in psychologischer Behandlung wieder.

Der Protagonist eines Artikels von Jan Vollmer in der Schweizer „Handelszeitung“ steht exemplarisch für ein Phänomen, das in der Management-Literatur bisher nur eine marginale Rolle spielt. Die Rede ist von einem Boreout – dem exakten Gegenteil zum Burnout. Letzterer, also das Ausbrennen für die Arbeit bis zur völligen Erschöpfung, gilt angesichts von immer höherem Leistungsdruck, mobilen Endgeräten, die rund um die Uhr die Erreichbarkeit von Arbeitnehmern garantieren und einer Arbeitswelt, in der die Grenzen zwischen Beruflichem und Privatem seit Jahren immer mehr verschwimmen, zumindest potenziell als Massenkrankheit. In der Burnout-Debatte geht es vor allem um die Frage nach grundsätzlichen Fehlern in der Arbeits- und Führungskultur von Unternehmen, welche die chronische Überforderung des Einzelnen zur Folge haben. Ein Boreout ist im Vergleich dazu ein diskretes Leiden und vor allem ein Problem hochqualifizierter Arbeitnehmer.

Boreout versus Leistungsethik

In ihrem Buch „Diagnose Boreout“ haben sich die Schweizer Unternehmensberater und Managementwissenschaftler Philippe Rothlin und Peter Werder als erste Autoren überhaupt in systematischer Form mit dem Boreout-Phänomen befasst. Für die Betroffenen wird ihre Situation oft regelrecht zur „Boreout-Falle“. Wer gibt angesichts einer omnipräsenten Leistungsethik schon gerne zu, dass er an seinem Arbeitsplatz unterfordert bis überflüssig ist oder wendet sich deshalb sogar an seine Vorgesetzten? Vor allem Menschen mit familiärer Verantwortung befürchten vielleicht auch, ihren Arbeitsplatz endgültig zu verlieren und eine berufliche Neuorientierung nicht lückenlos zu schaffen. Die Konsequenz daraus: Boreout-Betroffene haben einen Job, aber keine oder unzureichende und absolut unbefriedigende Arbeit. Auf lange Sicht werden sie krank davon. Gleichzeitig liegen in den Unternehmen, in denen sie beschäftigt sind, wertvolle Ressourcen brach.


Wer den ganzen Arbeitstag lang unterfordert ist, kann auch Depressionen entwickeln. (Bild: Kitty – Fotolia.com)


Dass es um einen Boreout gehen könnte, stellt sich oft erst heraus, wenn die Betroffenen gar nicht mehr weiter wissen und sich professionelle Hilfe suchen. Das Leiden beginnt ebenso wie ein Burnout mit Frust und Antriebslosigkeit, die nach und nach auch das private Leben prägen. Später kommen oft auch depressive Verstimmungen und psychosomatische Beschwerden, beispielsweise Magenbeschwerden, Schlafstörungen oder Tinnitus, hinzu. In der Wissenschaft sind allerdings sowohl das Phänomen an sich als auch die Boreout-Analyse von Rothlin und Werder heiss umstritten, zumal beide keine Arbeitspsychologen sind. Eine gesicherte Datenbasis für Boreout gibt es bisher nicht. Im Bewusstsein der meisten Unternehmen ist die Problematik noch gar nicht angekommen. Bisher sorgen vor allem die Medien dafür, dass die Thematik inzwischen auch bei Wissenschaftlern Interesse findet.

Downgrading – nach Umstrukturierungen oft ein Problem von Fach- und Führungskräften

Professor Beda Stadler von der Uni Bern geht davon aus, dass ein Burnout dafür steht, dem früheren Nervenzusammenbruch ein neues, akzeptables Image zu verleihen – die sprachliche Nähe des Boreout-Begriffs zu seinem Gegenteil sei ein Indikator, dass es auch bei diesem Phänomen darum gehe, soziale Akzeptanz zu finden. Entscheidend dafür ist, dass das Problem heute nicht nur Menschen mit eher einfachen Tätigkeiten betrifft, sondern in den Management-Etagen angekommen ist. Die Züricher Personalberatung Contagi hat sich als einer der ganz wenigen Anbieter in diesem Arbeitsfeld darauf spezialisiert, unterforderten Fach- und Führungskräften wieder in den „Flow“ zurück zu helfen. Aus Sicht des Contagi-Experten Martin Wittner ist ein Boreout direkt an den Verlust oder das ungewollte Downgrading einer Führungsposition gebunden. In der Produktion stossen seiner Erfahrung nach Rotationspläne, die den Job für den einzelnen Mitarbeiter abwechslungsreicher gestalten sollen, zum Teil sogar auf Widerstand, was allerdings kaum problematisch sei, da es um keine grundsätzlichen Veränderungen der Arbeitsinhalte geht.



Demgegenüber landen Führungskräfte gerade nach Umstrukturierungen mindestens gefühlt gar nicht so selten auf dem Abstellgleis und verlieren damit eine wichtige – wenn nicht die wichtigste – Komponente ihres Selbstvertrauens. In grossen Konzernen gibt es für solche Fälle oft eine Vertrauensperson im Personalbereich, die gegebenenfalls auch Möglichkeiten für eine im ersten Schritt anonyme Kontaktaufnahme bietet, mittlere oder kleine Unternehmen bieten diese Hilfestellung jedoch nur selten an. Vorgesetzte werden ein Boreout meist erst als Letzte sehen: Betroffene werden in der Regel alles tun, gegenüber ihren Chefs formal Beschäftigung zu zeigen. Zudem wirft ein identifizierter Boreout-Fall strukturelle Fragen in der Abteilung auf, denen sich Vorgesetze und Personaler vielleicht nur ungern stellen.

In solchen Konstellationen können externe Beratungsunternehmen wie Contagi hilfreich sein – umso mehr, als sie nicht in die Hierarchie des Unternehmens eingebunden sind und damit eine andere Vertrauensbasis schaffen können. Consultant Wittner betreut seine Klienten in einem Drei-Phasen-Modell, das von der Situationsanalyse über ein kommunikatives Training für entsprechende Gespräche – im privaten Umfeld und im Unternehmen – bis zur Entwicklung eines Lösungsplanes reicht. In der dritten Phase tritt der Personalberater als direkter Mediator zwischen dem Mitarbeiter und seinem Unternehmen auf. Die Initiative zur Beratung geht dabei ausschliesslich von den Betroffenen aus.

Auch Herr W. fand durch eine solche Mediation schliesslich einen Ausweg aus der Boreout-Falle. Er arbeitet heute immer noch in seinem alten Unternehmen und entwickelt dort als Einzelkämpfer ohne Team einen neuen Produktbereich. Den Weg dorthin beschreibt er als ein sehr diskretes Prozedere, in das schliesslich auch sein Bereichsleiter einbezogen werden konnte. Für die Firma und für ihn selbst ist daraus eine Win-Win-Situation entstanden. Herr W. fand nach der Versetzung wieder Freude an seiner Arbeit und auch sein Unternehmen hat in ihm wieder einen engagierten Mitarbeiter.

 

Oberstes Bild: © Antonio Gravante – Fotolia.com

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